Anspruchsvoraussetzungen für Kurzarbeitsentschädigung bei internationalen Sachverhalten

Im Urteil 8C_780/2020 vom 15. April 2021, welches zur amtlichen Publikation vorgesehen ist, befasste sich das Bundesgericht mit den Anspruchsgrundlagen der Kurzarbeitsentschädigung bei internationalen Sachverhalten. Liegt der Beschäftigungsort nicht in der Schweiz, können die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmenden gemäss dem Bundesgericht nicht von der Kurzarbeitsentschädigung nach schweizerischem Recht profitieren, und zwar unabhängig von ihrem Wohnort. Das Institut der Kurzarbeitsentschädigung folgt insoweit eigenen Anspruchs- und Bemessungsvorschriften. Deshalb ist ein solcher Anspruch gemäss den Ausführungen des Bundesgerichts nicht schon aufgrund des Umstands zu bejahen, dass die Beschäftigte in der Schweiz sozialversicherungspflichtig ist und allenfalls bei Ganzarbeitslosigkeit Arbeitslosenentschädigung nach schweizerischem Recht erhalten könnte.

Sachverhalt

Die im Vereinigten Königreich domizilierte, im Tourismusbereich tätige X. Ltd. liess am 27. März 2020 die Voranmeldung von Kurzarbeit ab dem 1. April 2020 für die in der Schweiz beschäftigte Angestellte A. einreichen. Dagegen erhob das Amt für Arbeitslosenversicherung des Kantons Bern (nachfolgend: AfA) mit Verfügung vom 7. Mai 2020 Einspruch, weil die X. Ltd. keinen Betriebssitz in der Schweiz habe, weshalb sie keine Voranmeldung für Kurzarbeit einreichen könne. Die dagegen von A. erhobene Einsprache wies das AfA ab (Einspracheentscheid vom 6. Juli 2020).

Die hiergegen eingereichte Beschwerde der A. hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern gut und wies die Sache zur Abklärung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen im Sinne der Erwägungen und Neuverfügung an das AfA zurück (Entscheid vom 26. November 2020). An der im Namen der X. Ltd. geführten Beschwerde hielt A. im Laufe des Verfahrens nicht mehr fest, sodass das Verwaltungsgericht, nachdem es beide Verfahren vereinigt hatte, dieses Verfahren als erledigt vom Protokoll abschrieb.

Das AfA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei der Einspracheentscheid vom 6. Juli 2020 zu bestätigen.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 8C_780/2020 vom 15. April 2021  

Strittiger Punkt

Streitig und durch das Bundesgericht zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie trotz Sitz der X. Ltd. im Vereinigten Königreich einen grundsätzlichen Anspruch der angemeldeten Arbeitnehmerin auf Kurzarbeitsentschädigung nach AVIG bejaht hat. (E.4.1).

Ansicht der Vorinstanz

Die Vorinstanz erwog nach Darstellung des Bundesgerichts, es gebe keine gesetzliche Grundlage, die einen Betriebssitz in der Schweiz verlange. Namentlich Art. 31 Abs. 1 lit. a AVIG setze einzig die Beitragspflicht des betroffenen Arbeitnehmers voraus (Art. 2 Abs. 1 lit. a AVIG in Verbindung mit Art. 3 AHVG), was hier erfüllt sei. Ebenso wenig ergebe sich eine solche Anspruchsvoraussetzung aus Art. 36 Abs. 1 AVIG, welcher einzig das Verfahren zur Anmeldung von Kurzarbeit regle und namentlich bestimme, dass die Voranmeldung bei der kantonalen Amtsstelle einzureichen sei. Art. 37 AVIG umschreibe die Pflichten des Arbeitgebers, ohne Anspruchsvoraussetzungen festzulegen. Damit sei bereits aufgrund der sozialversicherungsrechtlichen Unterstellung der betroffenen Mitarbeiterin in der Schweiz nach den Bestimmungen des AVIG ein Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung zu bejahen, sofern die weiteren Voraussetzungen nach Art. 31 AVIG erfüllt seien. Die Anwendbarkeit des FZA liess die Vorinstanz offen, da die Beschwerde bereits gestützt auf nationales Recht gutzuheissen sei. Die Sache sei deshalb zur Prüfung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen an den Beschwerdeführer zurückzuweisen sei. (E.4.2)

Standpunkt des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, wie das Bundesgericht ausführt, die Vorinstanz verletze mit ihrer Auffassung Art. 36 AVIG in Verbindung mit Art. 119 Abs. 1 lit. b AVIV. Denn das AfA sei für die Beurteilung der Voranmeldung von Kurzarbeit für den im Vereinigten Königreich und somit nicht in der Schweiz bzw. im Kanton Bern domizilierten Betrieb örtlich nicht zuständig. Der von Kurzarbeit betroffene Betrieb müsse im Zuständigkeitsbereich einer inländischen kantonalen Amtsstelle liegen, was bei fehlendem Betrieb in der Schweiz nicht der Fall sei. (E.4.3)

Ausführungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht führt aus, dass, abweichend vom Territorialitätsprinzip, das für sozialrechtliche Ansprüche mit grenzüberschreitendem Bezug grundsätzlich an den Wohnort anknüpft, für die Leistungsausrichtung der Kurzarbeitsentschädigung der Beschäftigungsstaat zuständig sei (THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 3. Aufl. 2016, S. 2402 Rz. 458). Dieses Prinzip ist auch in der VO Nr. 883/2004 verankert, die in koordinationsrechtlichem Sinne festlegt, welcher Mitgliedstaat für die verschiedenen Zweige der sozialen Sicherheit zuständig ist. Anwendung findet sie gemäss ihres Art. 3 Abs. 1 lit. h unter anderem für alle Rechtsvorschriften, die Leistungen bei Arbeitslosigkeit betreffen und bezüglich der Kurzarbeit verweist sie auf das Recht des Beschäftigungsstaats (Art. 65 Abs. 1). Kurzarbeit gilt dabei als eine Sonderform der Arbeitslosigkeit, die EU-rechtlich als vorübergehende Teilarbeitslosigkeit im Rahmen eines fortbestehenden Arbeitsverhältnisses definiert wird (NUSSBAUMER, a.a.O., S. 2402 Rz. 458; SUSANNE DERN, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] Nr. 883/2004, Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Kommentar, 2012, N. 9 ff. zu Art. 65 VO Nr. 883/2004; Kreisschreiben des SECO über die Auswirkungen der Verordnungen [EG] Nr. 883/2004 und 987/2009 auf die Arbeitslosenversicherung [KS ALE 883], Rz. A38 f.). Liegt der Beschäftigungsort nicht in der Schweiz, können die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmenden nicht von der Kurzarbeitsentschädigung nach schweizerischem Recht profitieren, und zwar unabhängig von ihrem Wohnort, wie das Bundesgericht betont. Nach Art. 1 lit. a VO Nr. 883/2004 gilt dabei als Beschäftigung jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Eine Beschäftigung nach schweizerischem Recht liegt vor, wenn die betreffende Person in einem für Beschäftigung geschaffenen System sozialer Sicherheit gesetzlich versichert ist (KS ALE 883 Rz. A4 ff.). Entscheidend ist, ob die betreffende Person AHV-rechtlich als unselbstständig erwerbstätig gilt. Als Beschäftigte sind folglich alle Personen zu betrachten, die AHV-rechtlich als unselbstständig erwerbstätig gelten. (E.5.1)

Das Bundesgericht fährt fort: «Es steht in sachverhaltlicher Hinsicht fest, dass die Beschwerdegegnerin in der Schweiz tätig und sozialversicherungsrechtlich abgabepflichtig ist (vgl. Art. 13 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 8 VO Nr. 987/2009). Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist damit jedoch der grundsätzliche Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung nach Schweizer Recht nicht bereits gegeben. Auch wenn die Arbeitnehmenden allein Anspruchsberechtigte sind und die Anspruchsberechtigung auf Kurzarbeit in persönlicher Hinsicht an das AHV-Beitragsstatut anknüpft (Art. 31 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 lit. a AVIG), sind zusätzlich betriebsbezogene Voraussetzungen zu erfüllen. Denn die Kurzarbeitsregelung greift an verschiedenen Stellen den Begriff des Betriebes auf. So ist organisatorische Bezugsgrösse für die Berechnung des Mindestarbeitsausfalls der gesamte Betrieb oder eine Betriebsabteilung, sofern diese als Organisationseinheit betrachtet werden kann. Dies ist nicht der Fall, wenn die Gruppe nur wenige Arbeitnehmende oder gar nur eine einzelne Person umfasst (Weisung des SECO in: AVIG-Praxis KAE Rz. C31-C36). Auch der Anspruch eines ausländischen Arbeitgebers auf Kurzarbeitsentschädigung in der Schweiz hängt entscheidend hiervon ab, was die Vorinstanz in Verletzung von Bundes- und internationalem Recht verkennt. In der vorliegenden Konstellation mit nur einer in der Schweiz tätigen Arbeitnehmenden, die nicht in einem Betrieb oder Betriebszweig der X. Ltd. in der Schweiz beschäftigt wird und daher nicht als eigene Betriebsabteilung angesehen werden kann, gilt die Schweiz nicht als Beschäftigungsstaat. Daran knüpft aber die Leistungsberechtigung, wie dargelegt, in betrieblicher Hinsicht bei Kurzarbeit an. Das Institut der Kurzarbeitsentschädigung folgt insoweit eigenen Anspruchs- und Bemessungsvorschriften (vgl. NUSSBAUMER, a.a.O., S. 2401 Rz. 456). Deshalb ist ein solcher Anspruch nicht schon aufgrund des Umstands zu bejahen, dass die Beschäftigte in der Schweiz sozialversicherungspflichtig ist und allenfalls bei Ganzarbeitslosigkeit Arbeitslosenentschädigung nach schweizerischem Recht erhalten könnte. Der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung besitzt dementsprechend andere Anknüpfungskriterien, indem echte und unechte Grenzgänger bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnstaats erhalten bzw. erhalten können (unechte Grenzgänger besitzen ein Wahlrecht; zum Begriff der Vollarbeitslosigkeit vgl. DERN, a.a.O., N. 9 ff. zu Art. 65 VO Nr. 883/2004; KS ALE 883 Rz. A38 f. A71 ff. und D34; für den deutschen Staat spiegelbildlich ebenso: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Kurzarbeit in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug, WD 6 – 3000 – 073/20, vom 24. August 2020 [www.bundestag.de]).» (E.5.2).

Zu keinem anderen Ergebnis führte gemäss Bundesgericht Art. 11 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 VO Nr. 883/2004, da diese vorliegend nicht zur Anwendung gelangen. Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 bestimmt als Grundregel, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Art. 13 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 befasst sich mit der Zuständigkeit bei Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten. Der Titel II der VO Nr. 883/2004 (Art. 11-16) enthält allgemeine Kollisionsregeln zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften. Diese allgemeinen Vorschriften gemäss Titel II gelten jedoch nur insoweit, als die besonderen Bestimmungen für die einzelnen Leistungsarten nichts anderes bestimmen, welche Titel III bilden („Besondere Bestimmungen über die verschiedenen Arten von Leistungen“: Leistungen bei Krankheit sowie Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft [Kapitel 1, Art. 17-35], Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten [Kapitel 2, Art. 36-40], Sterbegeld [Kapitel 3, Art. 42-43], Leistungen bei Invalidität [Kapitel 4, Art. 44-49], Alters- und Hinterbliebenenrenten [Kapitel 5, Art. 50-60], Leistungen bei Arbeitslosigkeit [Kapitel 6, Art. 61-65], Vorruhestandsleistungen [Kapitel 7, Art. 66], Familienleistungen [Kapitel 8, Art. 67-69], besondere beitragsunabhängige Geldleistungen [Kapitel 9, Art. 70]; BGE 144 V 127 E. 4.2.2 S. 130 m.w.H; SVR 2019 Nr. 39 S. 151, 2C_461/2018 E. 3.3.1). Als besondere Bestimmung für Leistungen bei Arbeitslosigkeit geht damit Art. 65 VO Nr. 883/2004 den allgemeinen Bestimmungen vor. (E.5.3)

Das Bundesgericht äussert sich schliesslich wie folgt: «Zusammenfassend fehlt es hier an einer Anbindung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Arbeitgeberin an dauerhafte betriebliche Strukturen in der Schweiz. Nachdem somit bei Kurzarbeit oder sonstigem vorübergehenden Arbeitsausfall Arbeitslosenleistungen nach den Vorschriften des Beschäftigungsstaats, als ob die Arbeitnehmenden dort wohnten, gewährt werden (Art. 65 Abs. 1 VO Nr. 883/2004; KS ALE 883 Rz. D34) und Art. 119 Abs. 1 lit. b AVIV damit übereinstimmend die örtliche Zuständigkeit der kantonalen Amtsstelle nach dem Ort des Betriebs festlegt, bestehen hinreichende gesetzliche Grundlagen, die den anspruchsverneinenden Entscheid des Beschwerdeführers stützen. Der vorinstanzliche Entscheid, der sich einzig nach der sozialversicherungsrechtlichen Beitragspflicht der von Kurzarbeit betroffenen Beschwerdegegnerin richtet, ist somit rechtswidrig ergangen. Die Beschwerde ist begründet.» (E.5.4).

Bemerkungen zum Urteil 8C_780/2020 vom 15. April 2021 des Bundesgerichts

In diesem Urteil klärt das Bundesgericht wichtige, und nicht Covid-19-spezifische, Fragen der Anspruchsvoraussetzung auf Kurzarbeitsentschädigung in internationalen Sachverhalten. Es erstaunt deshalb nicht, dass das Urteil zur amtlichen Publikation vorgesehen ist.

Weitere Artikel (Auswahl):

 

Kommentare (0)

Wir verwenden Cookies, um unsere Website und Ihr Navigationserlebnis zu verbessern. Wenn Sie Ihren Besuch auf der Website fortsetzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zum Datenschutz finden Sie hier.

Akzeptieren ×