Rechtsnorm im Fokus
Art. 20 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1989 über die Arbeitsvermittlung und den Personalverleih (AVG) lautet wie folgt:
«Das im allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag zur Kontrolle vorgesehene paritätische Organ ist zur Kontrolle des Verleihers berechtigt. Bei nicht geringfügigen Verstössen muss es dem kantonalen Arbeitsamt Meldung erstatten und kann dem fehlbaren Verleiher:
- nach Massgabe des Gesamtarbeitsvertrages eine Konventionalstrafe auferlegen;
- die Kontrollkosten ganz oder teilweise auferlegen.»
Sachverhalt
Die Beklagte B. ist eine Personalverleihfirma mit Sitz in Zürich. Sie verleiht u.a. Personal an Betriebe, die dem Verband C. angehören.
Im Urteil ist nicht erwähnt, um welchen Verband C. es sich dabei handelt bzw. um welche Branche. Dieser Verband C. schloss aber mit der Unia einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) in der entsprechenden Branche ab. Unter anderem wurden dabei Bestimmungen über Arbeitszeit, Ferien und Feiertage aufgestellt. Mit Bundesratsbeschluss vom 15. April 2014 wurde der GAV per 1. Juni 2014 bis zum 30. Juni 2017 allgemeinverbindlich erklärt. Nach einer Änderung vom 5. März 2015 wurde der GAV samt Änderung mit Bundesratsbeschluss vom 7. Dezember 2016 erneut abgeändert und bis zum 31. Dezember 2020 verlängert.
Gemäss Art. 11 GAV sicher die sich die Parteien des GAV eine konsequente Durchführung des GAV im Sinne von Art. 357b OR zu. Dafür wurde eine «Paritätische Landeskommission» bestellt.
Im vorliegenden Urteil ist diese Paritätische Landeskommission die Klägerin. Die Kommission befasst sich u.a. auch mit der Durchführung und dem Vollzug des GAV, inbesondere Baustellen- und Lohnbuchkontrollen sowie Ahnung von Verstössen gegen den GAV.
Die Klägerin (Paritätische Landeskommission) liess bei der Beklagten B. im September 2016 durch ein Unternehmen eine Lohnbuchkontrolle durchführen für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis 31. August 2016. Gestützt auf den Lohnkontrollenbericht verpflichtete im Anschluss die Klägerin (PLK-Ausschuss) die Beklagte B. zu Lohnnachzahlungen, zur Tragung der Kosten der Lohnbuchkontrolle sowie zur Bezahlung einer Konventionalstrafe. Den dagegen erhobenen Rekurs (verbandintern) wies die Klägerin mit Entscheid vom 19. Juni 2017 ab.
Verfahrensgeschichte
Gegen die von der Klägerin (Paritätische Landeskommission) eingeleitete Betreibung erhob die Beklagte B. Rechtsvorschlag, worauf das Rechtsöffnungsverfahren der Klägerin mit Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 29. Mai 2018 abgewiesen wurde.
Mit der Bezirksgericht Zürich erhobenen Klage vom 1. Oktober 2018 verlangte die Klägerin von der Beklagten die Bezahlung der Kosten für die Lohnbuchkontrolle und für ihr Verfahren sowie für die Bezahlung der Konventionalstrafe.
Mit Urteil vom 24. April 2020 wies die Vorinstanz die Klage vollumfänglich ab.
Innert Frist erhob die Klägerin und Berufungsklägerin (Paritätische Kommission) Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich.
Schlussfolgerung der Vorinstanz (Bezirksgericht Zürich)
Wie das Obergericht erklärt, kam die Vorinstanz, d.h. das Bezirksgericht Zürich, zusammengefasst zum Schluss, dass gemäss Art. 2 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1989 über die Arbeitsvermittlung und den Personalverleih (AVG) im Falle von «nicht geringfügigen Verstössen» Kontrollkosten sowie eine Konventionalstrafe auferlegt werden können. Gemäss dem Bezirksgericht sei der Begriff «geringfügig» rein grammatikalisch als «unerheblich, unbedeutend oder nebensächlich» zu verstehen. Gleichzeitig könne gemäss Bezirksgericht die Summe der vom fehlbaren Verleiher vorenthaltenen geldwerten Leistungen nur als Gradmesser für die Bedeutung der Verfehlungen gelten, wenn sie in Relation gesetzt werde.
Eine gewünschte Klärung, was unter einem «geringfügigen Verstoss» zu verstehen ist, bringt auch dieses Urteil leider nicht.
Ausführungen des Obergerichts des Kantons Zürich
Auslegung von Art. 20 Abs. 2 AVG
Kern des Urteils des Obergerichts des Kantons Zürich bildet die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 AVG.
Das Obergericht kommt dabei zu den gleichen Schlussfolgerungen wie das Bezirksgericht Zürich: «…wonach der klare Wortlaut der Norm darauf schleissen lässt, dass geringfügige Verstösse e contrario keine Grundlage für eine Konventionalstrafe oder Kostenauflage bilden» (E.4.4.2.2.).
Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 20 Abs. 2 AVG kann das Obergericht auch nicht ableiten, dass der Bestimmung bzw. dem Gesetz ein anderer Sinn beigemessen werden sollte als ein «wörtliches Verständnis nahelegt». (E.4.4.3.3.).
Keine Verschärfung von Art. 20 Abs. 2 AVG durch GAV möglich
Ein weiterer wichtiger Punkt des Urteils des Obergerichts des Kantons Zürich ist, dass die GAV-Parteien die Formulierung von Art. 20 Abs. 2 AVG nicht nachträglich im Rahmen des Vertragsschlusses verschärfen, indem sie die gesetzlich vorgesehene Voraussetzung eines nicht geringfügigen Verstosses beseitigen (E.4.4.3.4.).
Es stand ihnen gemäss dem Obergericht lediglich frei, die Verschärfung für die Mitglieder des GAV bzw. der entsprechenden Arbeitgeberpartei zu vereinbaren (E.4.4.3.4. a.E.).
Art. 20 Abs. 2 AVG und Personalverleiher
Das Obergericht des Kantons Zürich stellt fest, dass durch die Bestimmung von Art. 20 AVG Personalverleiher gleich wie alle anderen dem GAV unterstellten Betriebe kontrolliert werden können und das Schutzniveau eines GAV für Temporärbetriebe nicht unterschritten wird. Mit anderen Worten soll eine Gleichbehandlung zwischen Arbeitnehmern erreicht werden, welche nicht darauf zu achten haben, ob sie bei einem dem GAV unterstellten Betrieb oder bei einem Personalverleiher angestellt sind. (E.4.4.4.1.).
Hingen sei gemäss dem Obergericht eine Gleichstellung zwischen Unternehmen hinsichtlich allfälliger Verstösse im Gesetz nicht vorgesehen. Insbesondere kann die in Art. 20 AVG vorgesehene aufsichtsrechtliche Kontrolle nicht der verbandsrechtlichen Kontrolle der GAV-Parteien gleichgestellt werden (E.4.4.4.1.).
Das Obergericht wies hier darauf hin, dass im konkreten Fall die Personalverleiher beim Abschluss des GAV nicht miteinbezogen wurden. Zudem seien Personalverleiher nicht Mitglieder der Arbeitgebervertragspartei des GAV und haben damit auch kein Recht auf Einsitz bzw. Einflussnahme in der Paritätischen Landeskommission und würden auch in anderen Bereichen ungleich behandelt, welche sie direkt betreffen (E.4.4.4.1. a.E.).
Das Obergericht des Kantons Zürich nimmt wie folgt zusammenfassend Stellung: «Zusammenfassend bezweckt Art. 20 AVG keine völlige Unterstellung von Personalverleihern unter den GAV. Vielmehr sollen Personalverleiher überhaupt erst in diversen Bereichen kontrolliert werden können. Eine gänzliche Gleichstellung war nicht angestrebt. Entsprechend ist es auch zulässig, wenn Konventionalstrafen nur dann auferlegt werden können, wenn mehr als nur geringfügige Verstösse vorliegen» (E.4.4.4.2.).
Fazit des Obergerichts des Kantons Zürich
Das Obergericht des Kantons Zürich kommt im Urteil NP200016 vom 18. September 2020 zum Fazit: «Zusammenfassend ist Art. 20 Abs. 2 AVG dahingehend auszulegen, dass einem Personalverleiher lediglich im Fall von mehr als nur geringfügigen Verstössen die Kontrollkosten (samt Verfahrenskosten) sowie eine Konventionalstrafe auferlegt werden können.»
Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin in der Berufung nicht geltend gemacht, dass mehr als ein nur ein geringfügiger Verstoss vorliegen würde (E.6.1).
Autor: Boris Etter, lic.iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M., www.jobanwalt.ch