Die arbeitsrechtlichen Fragen zu Wiedereröffnungen von einzelnen Branchen im Lichte von COVID-19

Morgen Montag, den 27. April 2020, werden Teile der Schweizer Wirtschaft wiedereröffnet. Dazu gehören u.a. Arzt- und Zahnarztpraxen (für alle Behandlungen), Physiotherapie, Coiffure und Kosmetik sowie Baumärkte. Dann werden sich neue Fragen stellen zum Thema Gesundheitsschutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bezüglich COVID-19. Wir nehmen hier eine erste arbeitsrechtliche Tour de Horizon vor.

Gesundheitsschutz nach Art. 328 Abs. 2 OR
Der Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehört zu den Grundpflichten des Arbeitgebers, das besagt bereits die zentrale Norm von Art. 328 OR. Neben dem Persönlichkeitsschutz (Abs. 1) gehört der Gesundheitsschutz zu den zentralen Aufgaben: Der Arbeitgeber muss zum Schutz von Leben und Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sämtliche Massnahmen treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebs oder Haushalts angemessen sind (Abs. 2). Mithin ist bereits aus dem Obligationenrecht der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor COVID-19 notwendig. Die Crux ist beim Coronavirus, dass es an der «Erfahrung» mit dem Erreger mangelt und divergierende wissenschaftliche Ansichten zu fast jedem Punkt bestehen, wie u.a. der Art der Übertragung oder der Wirksamkeit von Masken.  Diese Schutzpflicht aus Art. 328 Abs. 2 OR gilt für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nicht nur für «besonders gefährdete Personen».

Arbeitsgesetz und Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz
Der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz wird im Arbeitsgesetz in Art. 6 geregelt. Die Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz (ArGV 3) konkretisiert diese Anforderung und umschreibt im Grundsatz in Art. 2: «Der Arbeitgeber muss alle Massnahmen treffen, die nötig sind, um den Gesundheitsschutz zu wahren und zu verbessern und die physische und psychische Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten». Auch hier gilt dies für alle Personen.

COVID-19 Verordnung 2 des Bundesrates vom 13. März 2020 (Fassung vom 17. April 2020)
Im Vordergrund werden in der Praxis aber dennoch zunächst die Bestimmungen der COVID-19 Verordnung 2 des Bundesrates vom 13. März 2020 (in der Fassung vom 17. April 2020) stehen, zusammen mit den Richtlinien des Bundesamtes für Gesundheitswesen (BAG).
Diese Verordnung enthält Bestimmungen für sog. «besonders gefährdeten Personen». Als besonders gefährdete Personen gelten gemäss Art. 10b Abs. 2 Personen ab 65 Jahren und Personen, die insbesondere folgende Erkrankungen aufweisen: Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Erkrankungen und Therapien, die das Immunsystem schwächen, Krebs. Diese medizinischen Risiken werden im Anhang 6 zur Verordnung dann noch sehr spezifisch konkretisiert. Der Anhang wird laufend vom BAG nachgeführt (Art. 10b Abs. 4). Zu beachten ist auch, dass der Anhang gemäss Art. 10b Abs. 3 nicht abschliessend ist: «Eine klinische Beurteilung der Gefährdung im Einzelfall bleibt vorbehalten.»

Art. 10c der COVID-19 Verordnung 2 vom 13. März 2020 (Fassung vom 17. April 2020) sieht folgende Kaskade des Vorgehens vor:

Der Arbeitgeber ermöglicht es den besonders gefährdeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch geeignete organisatorische und technische Massnahmen von zu Hause aus zu arbeiten, d.h. im Homeoffice (Abs. 1). In erster Linie wird also, wo möglich, Homeoffice angeordnet.

Wenn es nicht möglich ist im Homeoffice zu arbeiten, so weist der Arbeitgeber der betroffenen Arbeitnehmerin bzw. dem betroffenen Arbeitnehmer «in Abweichung vom Arbeitsvertrag», d.h. die Stellenbeschreibung ist für den Arbeitgeber nicht mehr verbindlich, bei gleicher Entlöhnung eine «gleichwertige Ersatzarbeit» zu, welche von zu Hause aus erledigt werden kann (Abs. 2). Der Begriff der «gleichwertigen Ersatzarbeit» bedarf einer Auslegung im Einzelfall.

Ist aus betrieblichen Gründen die Präsenz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor Ort ganz oder teilweise unabdingbar, so dürfen diese nur dann beschäftigt werden, wenn a) der Arbeitsplatz so ausgestaltet ist, dass jeder enge Kontakt mit anderen Personen ausgeschlossen ist, namentlich durch Bereitstellung eines Einzelraumes oder eines klar abgegrenzten Arbeitsbereichs unter Berücksichtigung des Mindestabstandes von 2 Metern oder, in Fällen wo ein enger Kontakt nicht jederzeit vermieden werden kann, wenn b) angemessene Schutzmassnahmen nach dem STOP-Prinzip ergriffen werden (Substitution, technische Massnahmen, organisatorische Massnahmen, persönliche Schutzausrüstung) (Abs. 3).

Wenn dies nicht möglich sein sollte, so weist der Arbeitgeber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine gleichwertige Ersatzarbeit vor Ort zu, bei der die Vorgaben von Abs. 3 erfüllt werden können (Abs. 4).

Bevor der Arbeitgeber die Massnahmen trifft, hat er die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anzuhören (Abs. 5). Die nähere Form dieser Anhörung ist näher beschrieben in der Verordnung. Mithin dürfte es zulässig sein, dass diese Anhörung auch auf dem Weg der schriftlichen oder elektronischen Kommunikation stattfindet. En Vogue sind ja gerade Bildschirmkonferenzen. Es dürfte aber unabdingbar sein, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich ein genaueres Bild über die Schutzmassnahmen machen können. Dies kann etwa durch Skizzen, Bilder oder Videos geschehen.

Wenn der Arbeitgeber die Voraussetzungen von Abs. 1 bis 3 nicht einhält, darf die betroffene Arbeitnehmerin bzw. der betroffene Arbeitnehmer die ihm zugewiesene Arbeit ablehnen. Die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer darf die Arbeit zudem auch ablehnen, wenn die Gefahr der Ansteckung mit dem Coronavirus trotz der getroffenen Massnahmen als für sich (subjektiv) zu hoch erachtet wird. Der Arbeitgeber kann ein ärztliches Attest verlangen (Abs. 6).

Sofern es nicht möglich ist, die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach den Absätzen 1 bis 4 zu beschäftigen oder wenn diese die zugewiesene Arbeit im Sinne von Abs. 6 ablehnen, so muss der Arbeitgeber sie unter Lohnfortzahlung freistellen (Abs. 7). Freistellung ist ein arbeitsrechtlich klar geregelter Begriff und bedeutet volle Lohnzahlung des Arbeitgebers ohne Arbeitspflicht der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer machen ihre besondere Gefährdung durch eine «persönliche Erklärung» geltend. Nicht definiert in der Verordnung ist, ob diese Erklärung nur den Status als «besonders gefährdete Person» oder auch weitere Informationen enthalten muss. Der Arbeitgeber kann ein ärztliches Attest verlangen (Abs. 8). Es ist davon auszugehen, dass in der Erklärung und ihm ärztlichen Attest der Status der «besonders gefährdeten Person» als Inhalt genügen und keine Details über die medizinischen Hintergründe offenbart werden müssen.

Zentrale arbeitsrechtliche Fragen für den 27. April 2020
Die Spannung steigt am 27. April 2020 auch im Arbeitsrecht. Mit der Wiedereröffnung ganzer Branchenzweige dürften sich diverse Fragen stellen. Dazu gehören u.a.:
– Sind die Massnahmen des jeweiligen Arbeitgebers zureichend?
– Wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden eine Freistellung nach Abs. 7 verlangen?
– Wie ist mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorzugehen, welche zu den «besonders gefährdeten Personen» gehören, aber dennoch arbeiten möchten?
– Welche Anforderungen sind an «persönliche Erklärungen» und an ärztliche Atteste gemäss Abs. 8 zu stellen?

Autor: Boris Etter, lic. iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M., www.jobanwalt.ch

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