Lohnvorschuss des Arbeitgebers
Bei finanziellen Schwierigkeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern stellt sich oft die Frage, wie diese am einfachsten kurzfristig zu liquiden Mitteln gelangen können. Im Arbeitsvertrag leistet der Arbeitnehmende die Arbeit vor und erhält dann gegen Ende des Monats, oft erst auf den 25. eines Monats, den Lohn ausbezahlt. Gemäss Art. 323 Abs. 4 OR kann vom Arbeitgeber bei einer Notlage ein Vorschuss verlangt werden.
Zwingende arbeitsrechtliche Bestimmung
Bei der Bestimmung von Art. 323 Abs. 4 OR handelt es sich um eine zwingende Bestimmung von Art. 361 OR, d.h. eine Norm, von welcher weder zugunsten noch zuungunsten des Arbeitnehmenden abgewichen werden darf.
Der Arbeitgeber kann sich natürlich gegenüber dem Arbeitnehmenden doch grosszügiger zeigen und ihm auch noch zusätzlich (und freiwillig) ein Darlehen i.S.v. Art. 312 ff. OR gewähren.
Notlage als zwingende Voraussetzung
Der Lohnvorschuss muss durch den Arbeitgeber nur dann gewährt werden, wenn sich der Arbeitnehmende in einer «Notlage» befindet (Art. 323 Abs. 4 OR).
Nach der arbeitsrechtlichen Praxis können u.a. die folgenden Situationen im Leben von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter den Begriff der «Notlage» subsumiert werden:
- Drohende Pfändung nach dem SchKG;
- Drohende Ausweisung aus der Mietwohnung;
- Risiko einer Strafe wegen Nichtbezahlung von Unterhaltsbeiträgen.
Eine Geldknappheit des Arbeitnehmenden allgemeiner Art oder die fehlende Möglichkeit, sich irgendwelche Konsumwünsche zu erfüllen, qualifizieren nicht als Notlage.
Unabhängigkeit von Verschulden des Arbeitnehmenden
Kein Kriterium ist bei der Pflicht des Arbeitgebers einen Lohnvorschuss zu leisten, ob es sich um einen seitens der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers verschuldete oder unverschuldete Notlage handelt. Der Gesetzgeber hat den Lohnvorschuss bewusst verschuldensunabhängig gestaltet.
Umfang des Lohnvorschusses
Eine Vorschusspflicht des Arbeitgebers besteht nur bezüglich des Lohns des Arbeitnehmenden, den dieser bereits im Zeitpunkt der Beanspruchung des Lohnvorschusses bereits verdient hat, der aber noch nicht fällig ist.
Wird die Arbeit durch die Arbeitnehmerin oder den Arbeitnehmer nicht geleistet, so besteht insoweit ein Anspruch auf Lohnvorschuss als die beanspruchende Person ein Anrecht auf eine Lohn(fort)zahlung hätte (vgl. etwa Art. 324 OR und Art. 324a OR).
Zinslosigkeit des Lohnvorschuss
Der Arbeitgeber kann für den Lohnvorschuss vom Arbeitnehmenden keinen Zins beanspruchen. Das ergibt sich aus Art. 81 Abs. 2 OR.
Besondere Fragen zum Lohnvorschuss
Falls ein 13. Monatslohn verdient wurde, kann auch für den bereits verdienten Teil des 13. Monatslohns ein entsprechender Lohnvorschuss verlangt werden. Dies ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insbesondere dann attraktiv, wenn der 13. Monatslohn nur am Jahresende, oder allenfalls halbjährlich, ausbezahlt wird und das Jahr bereits weit vorangeschritten ist.
Kein Lohnvorschuss kann verlangt werden bezüglich Vergütungselementen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die im Zeitpunkt des Vorschusses noch nicht feststehen. Dazu gehören u.a. Gratifikationen, Boni oder Abgangsentschädigungen.
Zumutbarkeit der Vorschussgewährung für Arbeitgeber
Die Pflicht einen Vorschuss an den Arbeitnehmenden zu leisten besteht für den Arbeitgeber nur sofern und soweit ihm das «billigerweise» (Art. 323 Abs. 4 OR) zugemutet werden kann. So ist der Arbeitgeber namentlich dann von der Vorschusspflicht befreit, wenn er selber in einer finanziellen Notlage steckt oder wenn er plötzlich von unerwartet vielen Vorschussbegehren von Arbeitnehmenden überschwemmt wird.
Absicht des Gesetzgebers
Aus der Botschaft wird klar, dass der Gesetzgeber das «Vorschusswesen» im Arbeitsrecht bewusst erschweren wollte.
Rückforderung und Verrechenbarkeit des Vorschusses
Der Vorschuss kann vom Arbeitgeber bei der nächsten Lohnauszahlung – oder natürlich auch später – in Abzug gebracht werden.
Die Verrechnungsbeschränkung von Art. 323b Abs. 2 OR ist in diesem Fall nicht anwendbar, da es um eine seitens des Arbeitgebers vorweggenommene Lohnzahlung und nicht um die Verrechnung einer Gegenforderung geht.
Darlehensgewährung durch Arbeitgeber und Abgrenzung zum Lohnvorschuss
Dem Arbeitgeber steht es natürlich auch frei, der Arbeitnehmerin bzw. dem Arbeitnehmer ein Darlehen nach Art. 312 ff. OR zu gewähren. Ob ein Lohnvorschuss oder ein Darlehen vorliegt, ist nach der Vereinbarung der Parteien und nach den gesamten Umständen zu bestimmen (Art. 81 OR).
Indizien für das Vorliegen eines Darlehens des Arbeitgebers nach Art. 312 ff. OR sind etwa, wenn die Zahlung des Arbeitgebers die Höhe des geschuldeten Lohnes deutlich übertrifft und ob der Arbeitgeber für eine längere Zeit auf die Rückzahlung des Vorschusses verzichtet.
Wenn der Arbeitgeber Vorschüsse ohne das Vorliegen einer Notlage des Arbeitnehmers leistet, so dürfte von einem Darlehen nach Art. 312 ff. OR auszugehen sein. Der gutmütige und grosszügige Arbeitgeber dürfte hier also rechtlich den kürzeren ziehen.
Diese Qualifikation der Leistung des Arbeitgebers ist aus verschiedenen Gründen relevant, u.a. bezüglich der Verrechnungsbeschränkungen von Art. 323b Abs. 2 OR und der Kündigungsfrist von Darlehen von 6 Wochen nach Art. 318 OR.
Praktische Tipps
Im Falle der Gewährung von Lohnvorschüssen durch den Arbeitgeber sollten diese auch immer als solche gekennzeichnet werden, z.B. durch einen Zahlungsbeleg oder durch den Buchungstext in der Überweisung. Es genügt auch ein kurzer Vermerk wie «Lohnvorschuss» oder «Art. 323 Abs. 4 OR».
Bei Zahlungen, welche den Betrag des geschuldeten Lohnes übersteigen, sollte klar unterschieden werden, wie viel davon einen Lohnvorschuss und wie viel ein Darlehen darstellt. Im Idealfall wird durch den Arbeitgeber auch gleich ein entsprechender Darlehensvertrag erstellt.
Autor: Boris Etter, lic.iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M., www.jobanwalt.ch
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