Missbräuchliche Kündigung wegen Krankheit (Urteil Bundesgericht 4A_293/2019 vom 22. Oktober 2019)

In der arbeitsrechtlichen Praxis stellt sich nicht selten die Frage, ob eine Kündigung des Arbeitgebers wegen einer Krankheit des Arbeitnehmers als missbräuchlich angesehen werden kann. In diesem Leiturteil des Bundesgerichts 4A_293/2019 vom 22. Oktober 2019 zeigte es auf, dass eine Kündigung des Arbeitgebers wegen einer Krankheit des Arbeitnehmers grundsätzlich zulässig ist. Anders verhält es sich aber, wenn die Krankheit auf eine Verletzung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nach Art. 328 OR zurückzuführen ist. Weiter geht es im Urteil um das in der Praxis zentrale Beweisthema.

Anwälte der Parteien
In diesem Verfahren standen sich die folgenden Anwälte gegenüben: Martin Farner vertrat den Arbeitnehmer A. Dr. Philipp Engel vertrat die B. AG, den Arbeitgeber. Der Fall spielte in erster Instanz vor dem Bezirksgericht Baden.

Sachverhalt
A war ab 14. Januar 2002 bei der B. AG als Abteilungsleiter „Einkauf/ Verkauf DVD“ angestellt. Am 27. August 2014 kam es zwischen A. und C., dem Verwaltungsratspräsidenten der B. AG, zu einer Auseinandersetzung. Ab dem Folgetag war A. bis Ende Januar 2016 krankgeschrieben. Mit Schreiben vom 15. September 2014 teilte die B. AG A. mit, dass sie plane, nach seiner Genesung das Arbeitsverhältnis aufzulösen und ihn von jeglicher Arbeitsleistung freizustellen. Mit Schreiben vom 24. Februar 2015 kündigte die B. AG das Arbeitsverhältnis per 31. März 2015. A. erhob innerhalb der Kündigungsfrist Einsprache.

Geltendmachung von missbräuchlicher Kündigung durch den Arbeitnehmer
Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, die am 24. Februar 2015 erfolgte Kündigung sei missbräuchlich. Er meint, die Beschwerdegegnerin habe ihn wegen einer Krankheit entlassen, die sie selbst durch jahrelange Überforderung am Arbeitsplatz verursacht habe. Die Beschwerdegegnerin stellte sich dagegen im vorinstanzlichen Verfahren und auch vor Bundesgericht auf den Standpunkt, Kündigungsmotiv sei nicht die Krankheit, sondern die anhaltende Widersetzlichkeit des Beschwerdeführers gewesen. Wie es sich damit verhält, braucht vorliegend nicht erörtert zu werden. Denn die Kündigung wäre auch dann nicht missbräuchlich, wenn sie aufgrund der Krankheit erfolgte, wie nachfolgend aufzuzeigen wäre (E.3 und E.3.1).

Ausführungen der Parteien zu Krankheit und missbräuchlicher Kündigung
Die Vorinstanz erwog, eine Krankheit, die zur Arbeitsunfähigkeit führe und sich somit auf das Arbeitsverhältnis auswirke, stelle grundsätzlich einen legitimen Kündigungsgrund dar. Eine nach Art. 336 OR verpönte Treuwidrigkeit liege indes vor, wenn die Krankheit einer Unterlassung der nach Art. 328 OR vom Arbeitgeber geschuldeten Fürsorge zuzuschreiben wäre und dieser um diesen Umstand gewusst habe. Im vorliegenden Fall könne folglich nur dann von einer missbräuchlichen Kündigung ausgegangen werden, wenn die Beschwerdegegnerin am 15. September 2014 (als sie dem Beschwerdeführer ihre Kündigungsabsicht mitteilte) gewusst habe, dass die Krankheit des Beschwerdeführers durch eine von ihr erwirkte Überforderung verursacht worden sei. Es fehle indes bereits an entsprechenden Behauptungen des Beschwerdeführers, zumal die von ihm geltend gemachten Überzeiten keine Überforderung begründeten. (E.3.3).

Der Beschwerdeführer moniert, in der Sache werfe ihm die Vorinstanz vor, dass er der Beschwerdegegnerin die Ursache seiner Krankheit nicht mitgeteilt habe. Indes habe für ihn kein Anlass bestanden, ihr mehr über seine Krankheit mitzuteilen, als sich aus den ärztlichen Attesten ergebe. Es bestehe denn auch „keine Pflicht zur Bekanntgabe der ärztlichen Diagnose“. Die Beschwerdegegnerin müsse sich angesichts der „langen Arbeitszeiten“, der „vielen E-Mails“, die sie ihm „zu jeder Tages- und Nachtzeit“ geschickt habe, und seiner Überzeit (die entgegen den vorinstanzlichen Feststellungen durchschnittlich nicht 14 bis 25, sondern 51 Minuten pro Tag betragen habe) bewusst gewesen sein, dass seine Krankheit „wohl die Reaktion“ auf diese Arbeitsbedingungen gewesen sei. (E.3.4).

Grundsätzlich zulässige Kündigung des Arbeitgebers wegen Krankheit des Arbeitnehmers
Das Bundesgericht machte daraufhin die wichtige Feststellung, dass der Arbeitgeber gegenüber einer Arbeitnehmerin oder einem Arbeitnehmer wegen einer die Arbeitsleistung beeinträchtigenden Krankheit grundsätzlich berechtigt ist die Kündigung auszusprechen, jedenfalls soweit die Sperrfrist nach Art. 336c Abs. 1 lit. b OR abgelaufen ist.

Dazu das Bundesgericht wörtlich m.w.H.: «Es ist grundsätzlich zulässig, jemandem wegen einer die Arbeitsleistung beeinträchtigenden Krankheit zu kündigen, jedenfalls soweit die Sperrfrist nach Art. 336c Abs. 1 lit. b OR abgelaufen ist (BGE 136 III 510 E. 4.4; 123 III 246 E. 5; Urteile 4A_564/2008 vom 26. Mai 2009 E. 2.2; 4C.174/2004 vom 5. August 2004 E. 2.2.2)» (E.3.5.1 a.A.).

Gegen Art. 336 OR verstossende Kündigung und notwendiger Kausalzusammenhang
Das Bundesgericht erklärte jedoch sogleich, dass dann eine nach Art. 336 OR verpönte treuewidrige Kündigung vorliegt, wenn die Krankheit auf eine Verletzung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers zurückzuführen ist. Dazu das Bundesgericht wörtlich m.w.H.: «Dagegen läge eine nach Art. 336 OR verpönte Treuwidrigkeit vor, wenn die krankheitsbedingte Beeinträchtigung der Verletzung einer dem Arbeitgeber obliegenden Fürsorgepflicht zuzuschreiben wäre (siehe Urteile 4A_437/2015 vom 4. Dezember 2015 E. 2.2.2; 4C.354/2005 vom 8. Februar 2006 E. 2.3, nicht publ. in: BGE 132 III 257; vgl. auch Urteil 4C.320/2005 vom 20. März 2006 E. 3.2).» (E.3.5.1).

Weiter betonte das Bundesgericht, dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem verpönten Motiv und der Kündigung selber vorausgesetzt wird. Dafür trägt der Arbeitnehmer die entsprechende Beweislast. In der Praxis kann diese Beweislast eine hohe Hürde darstellen.
Dazu das Bundesgericht wörtlich m.w.H.: «Die Missbräuchlichkeit einer Kündigung setzt einen Kausalzusammenhang zwischen dem verpönten Motiv und der Kündigung voraus. Es ist mithin erforderlich, dass der als missbräuchlich angefochtene Kündigungsgrund bei der Entscheidung des Arbeitgebers, den Arbeitsvertrag aufzulösen, eine entscheidende Rolle gespielt hat (siehe BGE 125 III 70 E. 2a S. 73; Urteil 4A_437/2015 vom 4. Dezember 2015 E. 2.2.3). Der Arbeitnehmer, der sich auf die Missbräuchlichkeit beruft, trägt hierfür die Beweislast. Dies gilt namentlich auch für den besagten Kausalzusammenhang zwischen dem angerufenen Kündigungsgrund und der Kündigung (siehe Art. 8 ZGB; BGE 130 III 699 E. 4.1 S. 703; 123 III 246 E. 4b S. 252; 121 III 60 E. 3b S. 62; vgl. auch Urteil 4C.313/1990 vom 4. März 1991 E. 1a).» (E.3.5.1).

Dieser Beweis gelang dem Arbeitnehmer im vorliegenden Fall nicht. Das Bundesgericht ging ausführlich auf die entsprechende Beweisführung vor der Vorinstanz ein: «Entscheidend ist somit, ob die Beschwerdegegnerin wusste, dass die Krankheit durch die Unterlassung der von ihr geschuldeten Fürsorge hervorgerufen wurde (immer vorausgesetzt, die Krankheit sei der tatsächliche Kündigungsgrund gewesen [siehe Erwägung 3.1]). Die Vorinstanz gelangte zum Ergebnis, dem Beschwerdeführer sei dieser Nachweis (bei einem Beweisgrad der hohen Wahrscheinlichkeit) nicht gelungen. Dies ist eine Frage der Beweiswürdigung, die vom Bundesgericht nur unter Willkürgesichtspunkten überprüft werden kann (vorstehende Erwägung 2.3). Willkür tut der Beschwerdeführer aber nicht dar. Er behauptet einzig, die Beschwerdegegnerin habe „ganz genau“ gewusst, dass sie ihn „überfordert“ habe, und verweist hierzu und in teilweise unzulässiger Ergänzung des Sachverhalts (vorstehende Erwägung 2.2) auf die E-Mails, die er erhalten habe, sowie auf den Umstand, dass die Überzeit täglich durchschnittlich 51 Minuten betragen habe. Weshalb der Schluss, die Beschwerdegegnerin habe nicht im Wissen um eine durch sie selbst pflichtwidrig verursachte Krankheit gekündigt, geradezu willkürlich sein sollte, ergibt sich daraus nicht.

Entsprechend sah die Vorinstanz zu Recht von der Abnahme der vom Beschwerdeführer offerierten Beweismittel – Zeugenbefragung der Ärzte, allenfalls Gutachten – ab. Denn diese taugten allenfalls zur Klärung der Frage, ob die Krankheit des Beschwerdeführers auf dessen angebliche Überforderung am Arbeitsplatz zurückzuführen war. Sie vermöchten aber ohnehin nicht aufzuzeigen, dass die Beschwerdegegnerin im Kündigungszeitpunkt um diesen Zusammenhang wusste, wie bereits die Vorinstanz ausführte und was auch der Beschwerdeführer nicht bestreitet. Die in diesem Zusammenhang und unter Hinweis auf Art. 8 ZGB erhobene Rüge des Beschwerdeführers, sein „Recht […] zum Beweis“ sei verletzt, verfängt nicht.» (E.3.5.2).

Kommentar zu Urteil
Das Urteil des Bundesgerichts 4A_293/2019 vom 22. Oktober 2019 ist aus verschiedenen Gesichtspunkten sehr wichtig bzw. als arbeitsrechtliches Leiturteil anzusehen.

Erstens macht das Bundesgericht klar, dass eine Kündigung des Arbeitgebers wegen einer Krankheit der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers (nach Ablauf der Sperrfrist, sonst wäre sie ja nichtig) grundsätzlich zulässig bzw. als nicht missbräuchlich anzusehen ist.

Zweites erklärt das Bundesgericht, dass eine Kündigung nur dann als unzulässig bzw. missbräuchlich gelten kann, wenn die Krankheit auf eine Verletzung der Fürsorgepflicht von Art. 328 OR durch den Arbeitgeber zurückzuführt werden muss und ein Kausalzusammenhang zwischen dem verpönten Motiv und der Kündigung selber vorliegt.

Drittens, und das dürfte in der arbeitsrechtlichen Praxis oft das Zünglein an der Waage sein, ist die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer für die Missbrauchselemente und den Kausalzusammenhang beweispflichtig.

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