Urteil Bundesgericht 4A_291/2008 vom 2. Dezember 2008 zur Verrechnung von Minusstunden

Das Urteil des Bundesgerichts 4A_291/2008 vom 2. Dezember 2008 ist ein Leiturteil zum Thema Verrechnung von Forderungen des Arbeitnehmers mit Minusstunden durch den Arbeitgeber. Es ist aber (leider) ein häufig zitiertes Leiturteil mit vielen Lücken im Sachverhalt und bei den rechtlichen Ausführungen.

Sachverhalt
Die X. AG (Beschwerdegegnerin) stellte A. (Beschwerdeführer) mit Arbeitsvertrag vom 23. September 2003 an. Am 10. Januar 2005 kamen die Parteien überein, den zuvor geltenden Stundenlohn mit Wirkung ab 1. Januar 2005 durch einen Monatslohn der Lohnklasse B von Fr. 4’500.– einschliesslich eines 13. Monatslohns zu ersetzen. Dieser Lohn wurde ab Mai 2005 auf Fr. 4’380.– brutto herabgesetzt. Mit Zusatzvereinbarung vom 20. Januar 2005 zum Gesamtarbeitsvertrag für den schweizerischen Gerüstbau 2001-2003 (GAV) wurden per 1. April 2005 die effektiv bezahlten Löhne aller Lohnklassen generell um 1,8 % erhöht.

Am 30. November 2005 kündigte die Arbeitgeberin den Arbeitsvertrag auf den 31. Januar 2006. Dagegen erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 29. Dezember 2005 Einsprache. Weil er am 26. und 27. Januar 2006 krank war, verlängerte sich das Arbeitsverhältnis bis Ende Februar 2006. Die Beschwerdegegnerin zog dem Beschwerdeführer vom Dezemberlohn und vom 13. Monatslohn für das Jahr 2005 insgesamt Fr. 5’706.95 ab. Sie begründete diesen Abzug damit, dass der Stundensaldo des Beschwerdeführers 210,75 Minusstunden aufweise. Vom Januarlohn zog die Arbeitgeberin für 11,2 Minusstunden weitere Fr. 272.05 ab.

Entscheide der Vorinstanzen
Mit Weisung vom 28. August 2006 klagte der Beschwerdeführer am 12. September 2006 bei der Bezirksgerichtlichen Kommission Arbon gegen die Beschwerdegegnerin unter anderem auf Zahlung von ausstehenden Lohnforderungen im Betrag von Fr. 9’435.85 sowie auf Ausrichtung einer Entschädigung von Fr. 13’662.– wegen missbräuchlicher Kündigung.
Mit Urteil vom 7. Juni 2007 hiess die Bezirksgerichtliche Kommission Arbon die Klage teilweise gut und verurteilte die Beschwerdegegnerin zu einer Lohnnachzahlung von Fr. 650.– und einer Entschädigung von Fr. 5’000.– wegen missbräuchlicher Kündigung. Die weitergehenden Forderungen wies sie ab.

Auf Berufung beider Parteien reduzierte das Obergericht des Kantons Thurgau den geschuldeten Betrag mit Urteil vom 18. Oktober 2007 auf Fr. 1’788.95.

Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt der Beschwerdeführer dem Bundesgericht neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheids in erster Linie die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz. Eventuell sei ihm Fr. 7’849.65 brutto an Lohn und Fr. 8’922.– als Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung zuzusprechen.Die Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

Ausführungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht betont in seinen rechtlichen Schlüsselausführungen, dass der Arbeitsvertrag ein schuldrechtliches Austauschverhältnis ist und dass der Grundsatz gilt «ohne Arbeit kein Lohn»:
«Der Arbeitsvertrag ist ein schuldrechtliches Austauschverhältnis. Wenn die eine Partei nicht leistet, kann die andere ihre Leistung zurückbehalten. Das ergibt sich aus den in Art. 82 OR festgehaltenen allgemeinen Grundsätzen und wurde vom Bundesgericht auch bezüglich des Rechts auf Arbeitsverweigerung bei Lohnrückständen ausdrücklich festgehalten (BGE 120 II 209 E. 6a S. 212).
Von diesem Grundsatz gibt es allerdings gewichtige Ausnahmen: Trifft der Gläubiger nicht die notwendigen Vorbereitungen, um die ihm geschuldete Leistung entgegennehmen zu können, gerät er in Annahmeverzug (Art. 91 OR). Weil die im allgemeinen Teil des Obligationenrechts für diesen Fall vorgesehene Rechtsfolge – nämlich der Rücktritt vom Vertrag (Art. 95 OR) – bei einem Dauerschuldverhältnis kaum adäquat ist, hat der Gesetzgeber beim Arbeitsvertrag eine Sonderregel geschaffen. Der Arbeitgeber hat den Lohn für die ganze Dauer der Verhinderung zu bezahlen, obgleich er die Arbeitsleistung nicht erhält und der Arbeitnehmer auch nicht später die Leistung noch erbringen muss (Art. 324 Abs. 1 OR). Dafür steht dem Arbeitnehmer kein Recht zu, vom Vertrag zurückzutreten (Frank Vischer, Der Arbeitsvertrag, SPR Bd. VII/4, 3. Aufl. 2005, S. 122).
Die gleichen Rechtsfolgen treten ein, wenn die Leistung aus einem Grund unmöglich geworden ist, der im Risikobereich des Arbeitgebers liegt. Der Gesetzestext ist allerdings verwirrend. Es steht aber in der Lehre ausser Diskussion, dass Art. 324 OR auch jene Fälle erfasst, in denen ohne das Verschulden des Arbeitgebers die Arbeitsleistung wegen eines Ereignisses unmöglich geworden ist, das in der Risikosphäre des Arbeitgebers liegt (Vischer, a.a.O., S. 122; Jürg Brühwiler, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, 2. Aufl. 1996, N. 2 zu Art. 324 OR, Manfred Rehbinder, Schweizerisches Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2002, Rz. 113 und 206; Adrian Staehelin, in: Zürcher Kommentar, 4. Aufl. 2006, N. 10 und 12 zu Art. 324 OR; Ullin Streiff/Adrian von Kaenel, Arbeitsvertrag, 6. Aufl. 2006, N. 4 zu Art. 324 OR; Gabriel Aubert, in: Commentaire romand, Code des obligations art. 1-529, 2003, N. 1 zu Art. 324 OR). Dazu gehört auch Zufall und höhere Gewalt (Staehelin, a.a.O., N. 19 f. zu Art. 324 OR).
Entscheidend ist damit immer die Frage, in wessen Risikosphäre das entsprechende Ereignis fällt. Gemäss dieser Risikoaufteilung trifft den Arbeitgeber grundsätzlich keine Lohnfortzahlungspflicht, wenn die Verhinderung in der Risikosphäre des Arbeitnehmers liegt. Es gilt der Grundsatz „kein Lohn ohne Arbeit“. Das Gesetz mildert diesen Grundsatz aber dahin, dass es eine Lohnfortzahlungspflicht während einer beschränkten Dauer vorsieht, wenn die Arbeitsunfähigkeit in der Person des Arbeitnehmers begründet ist und diesen kein Verschulden daran trifft (Art. 324a und 324b OR).» (E.3.2.)

Weiter erklärt das Bundesgericht, dass der im vorliegenden Fall anwendbare GAV an der Situation auch nichts ändere und kommt zur folgenden Konklusion: «Auf den konkreten Fall bezogen bedeutet dies, dass die Beschwerdegegnerin keinen Lohn schuldet, soweit der Arbeitnehmer weniger Stunden geleistet hat als gemäss der vertraglichen Vereinbarung hätten geleistet werden müssen, und diese Nichtleistung weder auf einen Annahmeverzug im Sinne von Art. 324 OR zurückzuführen ist noch eine Lohnfortzahlungspflicht nach den Art. 324a oder 324b OR bestand.» (E.3.3.)

Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Arbeitnehmers ab, soweit darauf einzutreten war (es ging auch noch um das Thema einer missbräuchlichen Kündigung).

Bemerkungen zum Urteil des Bundesgerichts
Im Urteil des Bundesgerichts 4A_291/2008 vom 2. Dezember 2008 werden wesentliche rechtliche Fragen nicht thematisiert. Auch fehlen zahlreiche relevante Details zum Sachverhalt. Als Präjudiz taugt dieses Urteil des Bundesgerichts deshalb für sich alleine kaum. Das Thema der Verrechnung von Minusstunden ist in der arbeitsrechtlichen Praxis relativ häufig anzutreffen. Wichtige Fragen sind dann, ob der Arbeitgeber sein Recht zur Verrechnung von Minusstunden verwirkt hat bzw. bis zu welchem konkreten Zeitpunkt er rechtsgültig die Minusstunden einfordern kann.

Von: Boris Etter, lic.iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M., www.jobanwalt.ch

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