Urteil des Bundesgerichts vom 5. Mai 2020 (9C_409/2019): Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer bei Wechsel der beruflichen Vorsorgeeinrichtung durch den Arbeitgeber

Arbeitnehmer haben gemäss Urteil des Bundesgerichts vom 5. Mai 2020 (9C_409/2019) beim Wechsel der beruflichen Vorsorgeeinrichtung durch den Arbeitgeber ein echtes Mitbestimmungsrecht. Die Kündigung des Anschlussvertrages mit der bisherigen Pensionskasse durch den Arbeitgeber setzt die vorgängige Zustimmung des Personals voraus. Fehlt diese, ist die Kündigung ungültig.

Mehrere Berufsverbände hatten per Ende 2017 die Anschlussvereinbarung mit der bisherigen beruflichen Vorsorgeeinrichtung gekündigt. Die Bernische BVG- und Stiftungsaufsicht kam im Rahmen ihres Entscheides über eine Teilliquidation der Vorsorgeeinrichtung unter anderem zum Schluss, dass der Anschlussvertrag ordnungsgemäss gekündigt worden sei. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde der Pensionskasse 2019 ab. Das Bundesgericht heisst ihre Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt. Artikel 11 Absatz 3bis des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) sieht vor, dass die Auflösung eines bestehenden Anschlusses an eine Vorsorgeeinrichtung und der Wiederanschluss an eine neue Vorsorgeeinrichtung durch den Arbeitgeber im Einverständnis mit dem Personal oder der allfälligen Arbeitnehmervertretung erfolgt. Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, dass die Kündigung im vorliegenden Fall im Einverständnis mit dem Personal geschehen sei, da die Arbeitnehmenden von der erfolgten Kündigung durch den Arbeitgeber während der laufenden Kündigungsfrist Kenntnis erhalten und keine Einwände erhoben hätten.

Dieser Auffassung kann gemäss dem Bundesgericht nicht gefolgt werden. Dem Gesetzgeber schwebte eine gemeinsame Entscheidung von Arbeitgeber und Arbeitnehmern über die Wahl der Vorsorgeeinrichtung vor. Den Arbeitnehmern wurde dazu ein besonderes Mitwirkungsrecht eingeräumt. Es reicht nicht, das Personal nur nach der Kündigung zu orientieren oder anzuhören. Vielmehr bedarf es seiner Zustimmung zum Anschlusswechsel. Wird das Mitwirkungsrecht wie im vorliegenden Fall von einem „Mitgestalten“ in ein „Opponieren“ verkehrt, geht damit eine spürbare Schwächung der Position der Arbeitnehmenden einher, indem sie vor ein „fait accompli“ gestellt und sich selber überlassen werden. Die Bestimmung von Artikel 11 Absatz 3bis BVG legt indessen eine echte Mitbestimmung des Personals fest. Ohne eine der Kündigung vorangegangene Einwilligung der Arbeitnehmenden sind dem Arbeitgeber die Hände gebunden. Wurde das Personal vor der Kündigung nicht miteinbezogen, ist diese ungültig.

Das Bundesgericht äussert sich wie folgt zu Art. 11 BVG: „Das Einvernehmen zwischen dem Arbeitgeber und seinem Personal war – unter dem Titel von Art. 11 BVG – seit jeher von grundlegender Bedeutung (so bereits BBl 1976 I 149, 224 [Ziff. 521.2]). Die heute geltende Regelung von Art. 11 Abs. 3bis BVG beruht auf einem Vorschlag der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats. Diese legte grossen Wert auf ein unmittelbares Mitwirkungsrecht der Gesamtheit des Personals bzw. dessen Vertretung. Der Bundesrat hatte in seiner Vorlage lediglich das Einverständnis des paritätisch besetzten Organs vorgesehen (BBl 1999 2637, 2689 [Ziff. 4.1]), was den Arbeitnehmenden nur ein indirektes und eingeschränktes Mitwirken ermöglicht hätte, zumal der Arbeitgeber in erster Linie sich selber konsultiert hätte (das paritätische Organ besteht zur Hälfte aus Arbeitgebervertretern). Mit dem direkten Miteinbezug der Arbeitnehmenden sollte gerade mit Blick auf die Sammelstiftungen einem Vollzug „von oben herab“ und einer möglichen – einseitig beschlossenen – Verschlechterung der Konditionen begegnet werden. Im Sinne der Sozialpartnerschaft sei anzuerkennen, dass die richtige Ebene der Mitbestimmung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer liege. Es müsse für alle offen und transparent sein, welcher Einrichtung man sich zu welchen Konditionen anschliessen will (Protokoll vom 25./26. Januar 2001 S. 46-49). Diese Auffassung setzte sich letztlich eindeutig durch (16 zu 0 bei 3 Enthaltungen [Protokoll vom 30./31. Januar und 1. Februar 2002 S. 23]). Der Nationalrat übernahm den Antrag seiner Kommission diskussionslos (AB 2002 N 522, 15. April 2002). Auch im Ständerat führte die neue Bestimmung zu keinen Diskussionen (AB 2002 S 1042 f., 28. November 2002). Differenzen in redaktioneller Hinsicht (AB 2002 S 1043, 28. November 2002 und AB 2003 N 625 f., 6. Mai 2003) sowie die Schlussabstimmungen blieben ebenfalls ohne Weiterungen (AB 2003 N 1744, 3. Oktober 2003 und AB 2003 S 1030, 3. Oktober 2003).“ (E.4.3.2.1.).

Weiter fährt es zur gemeinsamen Entscheidung fort: „Dem Gesetzgeber schwebte demnach eine gemeinsame Entscheidung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Wahl der Vorsorgeeinrichtung vor Augen, und er räumte Letzteren in diesem Zusammenhang ein besonderes (vorsorgespezifisches) Mitwirkungsrecht ein. Es reicht nicht, das Personal nur zu orientieren und/oder anzuhören. Vielmehr bedarf es dessen Zustimmung zum Anschlusswechsel, welcher Akt als eine kollektive Grösse zu begreifen ist und nicht als eine Kumulation individueller Rechte, die jedem einzelnen Arbeitnehmer zusteht (in diesem Sinne auch WYLER, a.a.O., N. 9 zu Art. 11 BVG; MARC HÜRZELER, Betriebsschliessung und Betriebsübernahme, Auswirkungen auf die berufliche Vorsorge, in: BVG-Tagung 2015, S. 19; RÖSLER, a.a.O., S. 41).“ (E.4.3.2.2.).

Weiter macht das Bundesgericht folgende Ausführungen:

Kommt im Falle von Art. 11 Abs. 3bis (Satz 1) BVG keine Einigung zustande, so entscheidet ein neutraler Schiedsrichter, der im gegenseitigen Einverständnis oder, bei Uneinigkeit, von der Aufsichtsbehörde bezeichnet wird (Art. 11 Abs. 3ter BVG). Der Entscheid ist konstitutiv (vgl. Art. 387 ZPO). Daraus erhellt, dass es bei Uneinigkeit keine „gestaffelte“ Beschlussfassung im Sinne einer „nachgeordneten“ Genehmigung gibt. Weshalb dies bei einer „Konsens-Kündigung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 3bis Satz 1 BVG anders sein soll, leuchtet nicht ein.

Die anschlussvertragliche Kündigung ist – nicht anders als jede andere vertragliche Kündigung – ein einseitiges Gestaltungsrecht und grundsätzlich bedingungsfeindlich sowie unwiderruflich (BGE 141 V 597 E. 3.1 S. 601; zur vertraglichen Natur der Anschlussvereinbarung vgl. BGE 120 V 299 und SVR 2017 BVG Nr. 32 S. 145, 9C_108/2016 E. 3.3). Aus diesem Grundsatz folgt – wie sich BGE 128 III 129 E. 2b S. 135 f. (ständige Rechtsprechung; vgl. statt vieler auch Urteil 5A_701/2016 vom 6. April 2017 E. 6.4) entnehmen lässt -, dass die Kündigung erst wirksam sein kann, wenn sie von den dafür zuständigen Personen ausgesprochen worden ist. Ist die notwendige Genehmigung oder Zustimmung eines zweiten „Vorgesetzten“ (auf den vorliegenden Fall übertragen: des Personals) noch nicht erfolgt, kann die Kündigung ihre Wirkungen nicht entfalten. Für die Gegenpartei steht noch nicht fest, ob das „Arbeitsverhältnis“ (hier: Anschlussverhältnis) beendet werden soll. Diese Unsicherheit ist ihr nicht zuzumuten. Sie hat einen Anspruch darauf, während der ganzen Kündigungsfrist ohne Einschränkung zu wissen, dass das „Arbeitsverhältnis“ (hier: Anschlussverhältnis) beendet wird. Ein Schwebezustand ist nicht zumutbar. Von einer Unsicherheit über die Kündigung oder von einem (unannehmbaren) Schwebezustand kann allerdings nur gesprochen werden, wenn die gekündigte Partei tatsächlich an der Verbindlichkeit der Kündigung zweifelt. Wird der Mangel geheilt, was auch stillschweigend erfolgen kann, bevor der „Arbeitnehmer“ (hier: die Vorsorgeeinrichtung) diesen bemerkt, bestand von seiner (hier: ihrer) Seite nie Unsicherheit über die Wirksamkeit der Kündigung. Die vorliegende Obliegenheit der Vorsorgeeinrichtung (vgl. E. 3.2.3.1 Abs. 2) steht der Möglichkeit einer solchen Heilung von vornherein entgegen.

Angesichts ihres vertraglichen Charakters kann die Kündigung des Anschlussvertrages, anders als die Vorinstanz anzunehmen scheint, (vgl. E. 3.2.1 vorne), auch nicht einer amtlichen Verfahrenshandlung gleichgesetzt werden, deren Fehlerhaftigkeit aus Gründen der Rechtssicherheit in der Regel anfechtbar ist (vgl. dazu BGE 145 IV 197 E. 1.3.2 S. 201) bzw. ohne „Einwand“ Gültigkeit erlangt. Abgesehen davon mutet es (vielmehr) rechtsmissbräuchlich an, wenn der Arbeitgeber ohne vorgängige Zustimmung des Personals die Anschlussvereinbarung kündigt und dadurch für die resultierende Rechtsunsicherheit verantwortlich zeichnet, daraus aber einen Vorteil ziehen kann, indem das Mitwirkungsrecht beschnitten, das heisst das „Mitgestalten“ in ein „Opponieren“ verkehrt wird. Mit dieser Mutierung geht eine spürbare Schwächung der Position des Personals einher, weil nicht mehr ein partnerschaftliches Abwägen und Bereinigen der Gründe und Umstände für einen Anschlusswechsel im Vordergrund steht, sondern die Arbeitnehmenden vor ein „fait accompli“ gestellt und sich selber überlassen werden. Werden sie übergangen, müssen sie sich selber organisieren. Der kollektive Charakter des Mitwirkungsrechts lässt es nicht genügen, den Entscheid über die Nichtakzeptanz der Kündigung einzelnen Arbeitnehmenden zu überlassen.

Schliesslich setzen Sinn und Zweck von Art. 11 Abs. 3bis Satz 1 BVG eine – hinsichtlich der Kündigung – vorgängige Information des Personals voraus. Damit die Arbeitnehmenden ihr Einverständnis geben oder verweigern können, müssen sie frühzeitig über die für sie relevanten Kriterien verfügen. Wohl liegt einem Anschlusswechsel ein vielschichtiger Prozess zu Grunde: Er ist komplex und weist zahlreiche Fallstricke auf (vgl. zum Ablauf und zu Erfahrungen aus der Praxis URS THALMANN, Wechsel der Pensionskasse: Was zu beachten ist, Lösung muss immer wieder überprüft werden, in: SPV 2013 Sonderausgabe S. 19 f.; URS BANNWART, Pensionskassenwechsel, [K]eine einfache Sache, in: SPV 2012 Heft 4 S. 35 f.). Ohne dass hier das Verfahren und die Modalitäten, die zum Einverständnis des Personals führen, im Einzelnen festzulegen sind, liegt auf der Hand, dass eine sorgfältige Analyse und Strukturierung sowie die entsprechende Information des Personals zwecks Meinungsbildung eine gewisse Zeit beanspruchen. Im Rahmen des ordentlichen vertraglichen Kündigungsrechts, das hier ausgeübt wurde, lässt sich dies indessen – auch bei Vorliegen eines „träge (re) n“ Anschlussmodells (vgl. E. 1.3.1) resp. Kündigungsmodus (vgl. E. 3.2 vorne) – bestens planen; die notwendige Vorlaufzeit, um die Arbeitnehmenden laufend und sachgerecht informieren zu können, ist abschätz- und kalkulierbar. Eine Beschneidung der Mitbestimmung der Arbeitnehmenden aus Praktikabilitätsgründen ist daher nicht zu rechtfertigen. Das gilt auch im Anwendungsfall des ausserordentlichen gesetzlichen Kündigungsrechts (vgl. Art. 53f BVG). Dieses setzt wohl einen engen Zeitrahmen. De facto stehen Arbeitgeber und Arbeitnehmern aber immerhin fünf Monate zur Verfügung, um eine einvernehmliche Lösung zu finden (Art. 53f Abs. 1 und 2 BVG; vgl. auch BBl 2005 5953, 5955 Ziff. 2.2). Dies kann je nach Organisationsgrad und Grösse der Vorsorgeeinrichtung eine beträchtliche Herausforderung darstellen. Anders als es die Beschwerdegegner gerne sähen, trifft das Gesetz jedoch keine Unterscheidung zwischen autonomen Stiftungen und Sammelstiftungen.“ (E.4.3.2.3. bis E.4.3.4.).

Das Bundesgericht kommt zu folgenden Schluss: „Insgesamt lässt das Dargelegte nicht ansatzweise den Schluss zu, Art. 11 Abs. 3bis Satz 1 BVG habe blossen Ordnungscharakter. Im Gegenteil machen die vorangehenden Ausführungen deutlich, dass die genannte Bestimmung resp. das Einverständnis des Personals oder der allfälligen Arbeitnehmervertretung zur Auflösung des bestehenden Anschlusses an eine Vorsorgeeinrichtung als wesentliches und begründendes Erfordernis zu verstehen ist, indem Art. 11 Abs. 3bis Satz 1 BVG eine echte Mitbestimmung des Personals bzw. der Arbeitnehmervertretung statuiert (BRECHBÜHL/GROB, Wechsel der Vorsorgeeinrichtung, Mitbestimmungsrechte des Personals und Auswirkungen, in: BVG-Tagung 2018, S. 8; KONRAD/LAUENER, Rechte und Pflichten von Arbeitgebern bei ihrer Vorsorgelösung, in: Rolle des Arbeitgebers in der beruflichen Vorsorge, 2016, S. 66 oben; HÜRZELER, a.a.O., S. 17) : Dem Arbeitgeber sind ohne – der Kündigung vorangegangene – Einwilligung des Personals die Hände gebunden, so gerne er auch die Vorsorgeeinrichtung wechseln möchte. Die Nichteinhaltung des rechtzeitigen Miteinbezugs zeitigt allein eine Folge, und zwar die Ungültigkeit der Kündigung. So auch im hier zur beurteilenden Fall: E s steht für das Bundesgericht verbindlich fest (vgl. Art. 105 Abs. 1 BGG), dass die fragliche Kündigung (vgl. E. 3.2.3.1 vorne) ohne Einverständnis des davon betroffenen Personals ausgesprochen und dieses erst nachträglich darüber in Kenntnis gesetzt wurde (vorinstanzliche E. 4.5.2.4).“ (E.4.4.).

 

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