Sachverhalt
Die Beklagte ist eine Anwaltskanzlei in der Stadt Zürich. Der Kläger war seit Mai 2014 zunächst als Substitut und dann ab Februar 2017 als Rechtsanwalt angestellt. Im Februar 2018 kündigte der Kläger bei der Anwaltskanzlei. Den verschiedenen finanziellen Forderungen des Klägers gegen die Beklagte (Lohn, Provision, Überzeit) hielt die Anwaltskanzlei Minusstunden entgegen. Der Anwalt hätte im Jahr 2017 während ganzen 484.32 Stunden seien geschuldete Arbeitsleistung nicht erbracht aber dennoch Lohn dafür erhalten.
Rechtliche Ausführungen des Arbeitsgerichts Zürich zu Begriff und Folge der Minusstunden
Das Arbeitsgericht Zürich befasste sich zunächst mit dem Begriff der Minusstunden (E.1.3.): Von Minusstunden wird gesprochen, wenn der Arbeitnehmer weniger als vertraglich vereinbart gearbeitet hat. Als Folge von Minusstunden kann der Arbeitgeber beim Arbeitnehmer einen Lohnabzug vornehmen, sofern nicht ein Ausnahmetatbestand vorliegt, bei welchem der Arbeitgeber trotz fehlender Arbeitsleistung des Arbeitnehmers den Lohn zu bezahlen hat, wie z.B. Art. 324 OR oder die unverschuldete Verhinderung des Arbeitnehmers nach Art. 324a/b OR.
Bei vom Arbeitnehmer verursachten Minusstunden gilt der Grundsatz, dass ohne Arbeitsleistung kein Lohn zu bezahlen und ein Lohnabzug gerechtfertigt ist. Innerhalb derselben Abrechnungsperiode kann die Lohnzahlung gestützt auf Art. 82 und Art. 119 Abs. 2 OR entsprechend der Minderleistung verweigert werden. Fall der Lohnabzug hingegen erst in einem späteren Zeitpunkt erfolgen soll, so ist Art. 82 OR nicht mehr anwendbar.
Hingegen hat der Arbeitgeber für den in einer früheren Abrechnungsperiode zu viel bezahlten Lohn einen bereichungsrechtlichen Rückforderungsanspruch, welchen er mit späteren Lohnforderungen verrechnen kann.
Nicht geklärt ist gemäss dem Arbeitsgericht Zürich (durch die Praxis des Bundesgerichts mit Hinweis auf BGE 4A_291/2008) die Frage, wie lange der Arbeitgeber einen solchen Lohnabzug bei Minusstunden vornehmen kann. Denn bezahlt der Arbeitgeber trotz dem Vorliegen von Minusstunden den vollen Lohn vorbehaltlos aus, läuft er gemäss Teilen der Literatur Gefahr, den Anspruch auf Rückforderung oder Verrechnung zu verwirken.
Das Arbeitsgericht Zürich äussert sich in der Folge so (E.1.3. a.E.): «Das Arbeitsgericht Zürich erachtete die Verrechnung mit dem Lohn in der Kündigungsfrist zumindest dann als unzulässig, als ein Arbeitgeber den Lohn während mehrerer Jahre trotz ersichtlicher Minusstunden am Ende Monats vorbehaltlos auszahlte. […]. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung kann der Arbeitnehmer von einem Verzicht des Arbeitgebers ausgehen, wenn es der Arbeitgeber unterlässt, Ansprüche, die ihm den Umfang oder dem Grundsatz nach bekannt sind, vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend zu machen, insbesondere unter vorbehaltloser Auszahlung des letzten Lohnes […].»
Ausführungen der Anwaltskanzlei als Beklagte zu Minusstunden
Die beklagte Anwaltskanzlei machte geltend, der Kläger habe insbesondere im Jahr 2017 Minusstunden angehäuft und verwies lediglich pauschal darauf, dass für das Jahr 2018 das Gleiche gelte. Unbestrittenermassen hatte die Anwaltskanzlei aber, ausgenommen des Lohnes für den Monat Mai 2018, sämtliche Löhne des Klägers – ohne jeglichen Vorbehalt zu den aufgehäuften Minusstunden anzubringen – ausbezahlt. Die Nichtbezahlung des Lohnes für den Mai 2018 erklärte die Beklagte mit einer ungeklärten Sachlage bezüglich einer amtlichen Mandatierung.
Das Arbeitsgericht Zürich betonte, dass die Anwaltskanzlei nicht geltend machte, sie hätte die Minusstunden mit dem letzten Lohn des Klägers verrechnet, obwohl sie gemäss eigenen Ausführungen die für sie relevanten Leistungserfassung täglich entgegengenommen und somit Kenntnis von den Leistungen des Klägers gehabt habe. Das Gericht folgerte: «Die Verrechnungserklärung der Beklagten erfolgte daher verspätet» (E.1.4.).
Weiter erklärte das Arbeitsgericht, dass die diesbezüglichen Ausführungen der Beklagten unsubstantiiert seien. So sei aus den eingereichten Unterlagen nicht ersichtlich, wie sich die Berechnung der Minusstunden durch den Beklagten zusammensetzte, wann der Kläger zu wenig gearbeitet haben solle etc.
Keine Durchführung von Beweisverfahren möglich
Das Arbeitsgericht erachtete aufgrund der unsubstantiierten Ausführungen der beklagten Arbeitgeber-Anwaltskanzlei die Durchführung eines Beweisverfahrens als unmöglich. Ein verrechenbarer Anspruch der Beklagten aufgrund zu viel bezahlten Lohns besteht somit nicht.
Weitere Prozessgeschichte
Die gegen die Verfügung und das Urteil des Arbeitsgerichts Zürich erhobene Berufung wurde vom Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 7. Februar 2020 abgewiesen, wobei die Minusstunden kein Prozessthema mehr waren (LA190043).
Bemerkungen zum Urteil AH190053 vom 23. Oktober 2019 (AGer-Z. 2019 Nr. 5)
Das Thema Minusstunden ist alles andere als frei von Fallstricken für Arbeitgeber. Einerseits müssen die Minusstunden im Beweisverfahren vor Arbeitsgericht nachgewiesen werden können (was natürlich zuerst die genügende Behauptung und Substantiierung voraussetzt). Andererseits laufen Arbeitgeber Gefahr, wenn sie vorbehaltlos Lohn bezahlen bei vorhandenen und bekannten Minusstunden, insbesondere bei den letzten Lohnzahlungen bzw. der letzten Lohnzahlung, den Rückforderungs-anspruch zu verwirken. Bezüglich dieser Verwirkung fehlt es im Urteil des Arbeitsgerichts Zürich an einer klaren rechtlichen Argumentation bezüglich dieser Verwirkung.
Von: Boris Etter, lic.iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M., www.jobanwalt.ch
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