Doppelrelevante Tatsachen und Verfahrensattraktion zugunsten vom vereinfachten Verfahren

In der Präsidialverfügung des Arbeitsgerichts Zürich AN190029 vom 5. Dezember 2019 (AGer-Z. 2019 Nr. 20) ging es um einen prozessualen Antrag auf Beschränkung des Verfahrens auf die Frage, ob eine sexuelle Belästigung vorliegt. Bei diesem Fall handelt es um einen sehr praxisrelevanten Entscheid betreffend Verfahrensrecht und Gleichstellungsgesetz (GlG). Zentrale Punkte umfassen doppelrelevante Tatsachen bezüglich Verfahrensart, die Verfahrensattraktion zugunsten des vereinfachten Verfahrens sowie die Gültigkeit der durch die Paritätische Schlichtungsstelle für Streitigkeiten nach dem Gleichstellungsgesetz durchgeführten Schlichtung, welche auch andere arbeitsrechtliche Themen mit umfasste.

Sachverhalt

In einem vor dem Arbeitsgericht Zürich hängigen Verfahren, es geht dabei um das Verfahren AN190029 vom 5. Dezember 2019 (AGer-Z. 2019 Nr. 20), stand u.a. die Frage des Vorliegens einer sexuellen Belästigung bzw. der Anwendbarkeit des Gleichstellungsgesetzes (GlG) zur Diskussion. Die Argumentation der Beklagten (Arbeitgeber) ging dahingehend, dass ohne sexuelle Belästigung das GlG nicht auf die geltend gemachten Forderungen anwendbar wäre. Da der Streitwert über CHF 30’000 lag, hing davon ab, ob das ordentliche Verfahren oder (mit GlG) das vereinfachte Verfahren zur Anwendung gelangt. Dabei handelt es sich um sogenannte doppelrelevante Tatsachen im Zivilprozess.

Weiter fehlte es nach Ansicht der Beklagten mit Bezug auf die eingeklagten Ansprüche, die sich nicht auf das GlG stützten, an einer gültigen Klagebewilligung.

Doppelrelevante Tatsachen

Theoretische Ausführungen zu doppelrelevanten Tatsachen

Das Arbeitsgericht Zürich äusserte sich zuerst zu den doppelrelevanten Tatsachen und den diesbezüglichen Ausführungen der Beklagten. Nach BGE 137 III 32 entspricht es einem allgemeinen prozessualen Grundsatz bei der Beurteilung der Zuständigkeit primär auf den vom Kläger eingeklagten Anspruch und dessen Begründung anzustellen. Die Zuständigkeit des Gerichts hängt von der gestellten Frage ab und nicht von deren Beantwortung. Die Beantwortung der Frage hat im Rahmen der materiellen Prüfung zu erfolgen. Die vom Kläger behaupteten Tatsachen seien sowohl für die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts als auch für die Begründetheit der Klage relevant – sog. doppelrelevante Tatsachen. Diese doppelrelevanten Tatsachen seien für die Begründung der Zuständigkeit als wahr zu unterstellen. Sie würden erst bei der materiellen Prüfung der Ansprüche untersucht. Eine Ausnahme gelte nur für den Fall, wo der klägerische Tatsachenvortrag auf Anhieb fadenscheinig oder inkohärent erscheine und durch die Klageantwort und die von der Gegenseite produzierten Dokumente unmittelbar und eindeutig widerlegt werden könne.

Doppelrelevante Tatsachen und Verfahrensrecht

Zum Thema der Doppelrelevanz und der Anwendung bei Fragen des Verfahrensrechts (und nicht der Zuständigkeit eines Gerichts) äusserte sich das Arbeitsgericht Zürich wie folgt: «Ob die Praxis der Doppelrelevanz überhaupt dann anzuwenden ist, wenn es nicht (oder jedenfalls nicht nur) um die Zuständigkeit sondern um das anwendbare Verfahren geht, erscheint zweifelhaft.» (E.3.1.). Im vorliegenden Fall liess das Arbeitsgericht Zürich aber diese Frage ausdrücklich offen.

Situation in konkreten Verfahren

Das Arbeitsgericht Zürich diskutierte in der Folge, dass – entgegen der Ansicht der Beklagten – (noch) nicht davon gesprochen werden kann, dass der klägerische Tatsachenvortrag auf Anhieb fadenscheinig und inkohärent erscheine. Ohne Zeugen- und Parteieinvernahmen könne nicht geklärt werden, ob sexuelle Belästigungen vorliegen. Das Kollegialgericht wird letztlich darüber zu befinden haben, wie der Fall erledigt wird. Es seien aber keine Tatsachen ersichtlich, die ein Abweichen von der Praxis des Bundesgerichts als wahrscheinlich erscheinen lassen.

Die Beklagte führte weiter BGE 124 III 382 an. Gemäss dem Arbeitsgericht Zürich ändere dieses Urteil des Bundesgerichts nichts an der vorliegenden Situation. In BGE 124 III 382 ging es darum, ob sich eine Partei wegen diplomatischer Immunität überhaupt einem Gerichtsverfahren stellen müsse. Dieser Nachteil kann nicht mit einer allenfalls «falschen» Verfahrensart verglichen werden. Daraufhin kommt das Arbeitsgericht Zürich zur folgenden sehr interessanten Feststellung bezüglich des vereinfachten Verfahrens: «Ohnehin ist fraglich, ob es für die Beklagte ein Nachteil ist, den vorliegenden Prozess im vereinfachten Verfahren zu führen. Nicht nur der Kläger, sondern auch die Beklagte profitiert von der Kostenlosigkeit des Verfahrens und davon, länger als im ordentlichen Verfahren Noven und Beweismittel vorbringen zu können.»

Der von der Beklagten weiter ins Spiel geführte BGE 134 III 27 wurde ebenfalls vom Arbeitsgericht Zürich als Referenz abgelegt. In diesem Fall ging es um den Gerichtsstand eines (fakultativen) Streitgenossen. Das Arbeitsgericht Zürich bezeichnete die Tatsachen in diesem bundesgerichtlichen Urteil nicht gerade doppelrelevant, sondern «exorbitant».

Das Arbeitsgericht Zürich kam zur Schlussfolgerung: «Ist heute davon auszugehen, die Frage des «richtigen Verfahrens» werde nicht im Stadium des Eintretens, sondern erst bei der materiellen Prüfung beantwortet, drängt sich jedenfalls unter diesem Aspekt keine Einschränkung des Prozessthemas auf die Frage des Vorliegens einer sexuellen Belästigung auf.» (E.3.1. a.E.).

Verfahrensattraktion zugunsten des vereinfachten Verfahrens

Die Beklagte hatte bereits anlässlich der Hauptverhandlung eingewendet, dass das vereinfachte Verfahren nicht für alle nicht auf das Gleichstellungsgesetz gestützten Ansprüche gilt. Entsprechend sei die Klagebewilligung nicht gültig.

Anwendungsbereich vom vereinfachten Verfahren nach Art. 243 ZPO

Das Arbeitsgericht Zürich äussert sich zuerst zur Regelung von Art. 243 ZPO bezüglich der Anwendbarkeit des vereinfachten Verfahrens. Dieses ist für vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von CHF 30’000 (Art. 243 Abs. 1 ZPO) sowie ohne Rücksicht auf den Streitwert für Streitigkeiten nach dem Gleichstellungsgesetz (Art. 243 Abs. 2 lit. a ZPO) anwendbar.

Auf den Fall bezogen fuhr das Arbeitsgericht Zürich fort, dass die behauptete sexuelle Belästigung und die damit im Zusammenhang stehenden Forderungen zur Anwendung des vereinfachten Verfahrens führen. Im vorliegenden Fall machten die Forderungen aus sexueller Belästigung, wie das Arbeitsgericht Zürich betonte, denn auch ca. 45% des gesamten Streitwertes aus (E.3.2.1. a.A.).

Kriterien für Verfahrensattraktion

Das Arbeitsgericht Zürich äusserte sich dann wie folgt zur Verfahrensattraktion: «Werden nebst den privilegierten Ansprüche gemäss Gleichstellungsgesetz noch weitere Ansprüche gestützt auf andere Anspruchsgrundlagen geltend gemacht und wird dann der Streitwert von CHF 30’000 insgesamt überschritten, gilt auf für diese das vereinfachte Verfahren, wenn wie hier die anderen Ansprüche für sich allein betrachtet einen Streitwert von unter CHF 30’000 haben und gemäss Absatz 1 von Art. 243 ZPO ins vereinfachte Verfahren fallen (Monatslohn Juni, Pönalentschädigung missbräuchliche Kündigung, Änderung Arbeitszeugnis). Es findet eine Verfahrensattraktion zugunsten des vereinfachten Verfahrens statt. Bei der Streitwertberechnung im Rahmen von Absatz 1 von Art. 243 ZPO sind nur jene Rechtsbegehren zu berücksichtigen, die nicht unter Absatz 2 fallen. […] Es ist also zulässig, im gleichen Prozess nebst Ansprüchen gestützt auf das Gleichstellungsgesetz auch andere Ansprüche geltend zu machen. Weil für diese anderen Ansprüche auch allein ohnehin das vereinfachte Verfahren gilt, bleibt es selbstverständlich auch beim vereinfachten Verfahren, wenn keine sexuelle Belästigung bewiesen wird» (E.3.2.1.)

Hinweis auf § 25 GOG

Weiter führt das Arbeitsgericht Zürich aus, dass die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts als Kollegialgericht sowieso gegeben sei, sowohl für Forderungen aus dem Gleichstellungsgesetz als auch für übrige arbeitsrechtliche Forderungen.

Das Arbeitsgericht Zürich weist dann auch auf § 25 GOG – eine Bestimmung welche doch nicht allen Anwältinnen und Anwälten geläufig ist – hin, wonach der Präsident des Arbeitsgerichts jederzeit berechtigt ist, auch bei Streitwerten von unter CHF 30’000 die Streitigkeit dem Kollegialgericht zu unterbreiten (E.3.2.2.).

Exkurs zu § 25 GOG

Hier ist noch im Sinne eines kleinen Exkurses, die Bestimmung von § 25 GOG wiedergegeben:

«Die Präsidentin oder der Präsident des Arbeitsgerichts entscheidet als Einzelgericht Streitigkeiten gemäss § 20 bis zu einem Streitwert von Fr. 30‘000. Sie oder er ist berechtigt und bei Streitwerten von mindestens Fr. 15’000 auf Verlangen einer Partei verpflichtet, die Streitigkeit dem Kollegialgericht zu unterbreiten.»

Zu beachten ist, dass auch eine Partei bei Streitwerten von ab CHF 15’000 zwingend die Beurteilung durch das Kollegialgericht verlangen darf.

Gültigkeit der Klagebewilligung

Schliesslich hatte das Arbeitsgericht Zürich noch die Einwände der Beklagten betreffend Behauptung der fehlenden Gültigkeit der Klagebewilligung zu beurteilen. Im vorliegenden Fall fand nur eine Schlichtungsverhandlung vor der nach dem Gleichstellungsgesetz zuständigen Paritätischen Schlichtungsbehörde für Streitigkeiten nach dem Gleichstellungsgesetz statt.

Das Arbeitsgericht Zürich führt aus, dass «selbstredend» auch nur eine Schlichtungsverhandlung notwendig war: «Die für Streitigkeiten nach dem Gleichstellungsgesetz zuständige Paritätische Schlichtungsbehörde für Streitigkeiten nach dem Gleichstellungsgesetz […] durfte nach den vorstehenden Überlegungen ohne Weiteres auch einen Schlichtungsversuch bezüglich anderer (arbeitsrechtlicher) Ansprüche unternehmen. Dies muss umso mehr gelten, als nach dem Konzept der schweizerischen Zivilprozessordnung das Prinzip der Streitschlichtung und nicht die Art der Schlichtungsbehörde im Vordergrund steht. So hat es die Zivilprozessordnung den Kantonen überlassen, wie sie – abgesehen von den in Art. 200 ZPO vorgeschriebenen paritätischen Schlichtungsbehörden für Miet- und Pachtstreitigkeiten und Gleichstellungssachen – ihre Schlichtungsbehörden organisieren. Der Kanton Zürich hätte statt den Friedensrichterämtern andere Schlichtungsbehörden vorsehen können, auch für (gewöhnliche) arbeitsrechtliche Streitigkeiten.» (E.3.2.3.).

Entscheid in der Präsidialverfügung

Das Arbeitsgericht Zürich kam zur Schlussfolgerung, dass es nicht angebracht sei, das Verfahren auf die Frage zu beschränken, ob eine sexuelle Belästigung vorliegt oder nicht.

Kommentar um Entscheid des Arbeitsgerichts Zürich

Bei diesem Entscheid aus der Sammlung des Arbeitsgerichts Zürichs 2019 handelt es sich um eine Trouvaille des Verfahrensrechts. Das Arbeitsgericht Zürich behandelt zunächst ausführlich das Thema der doppelrelevanten Tatsachen im Zivilprozess. In E.3.1. klärt es aber (leider) den Punkt der Doppelrelevanz wenn es nur um die anwendbare Verfahrensart, aber nicht um die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts geht, nicht, sondern lässt die Frage ausdrücklich offen.

Sehr wichtig sind die Ausführungen des Arbeitsgerichts Zürich, wonach den Parteien im vereinfachten Verfahren keine Nachteile, sondern nur Vorteile entstehen, etwa bei der Kostenlosigkeit sowie beim Noven- und Beweisrecht. Diese Argumentationslinie ist durchaus auf zahlreiche anderen arbeitsrechtliche Themen übertragbar.

Das Arbeitsgericht Zürich hebt die – aufgrund er vor dem Gericht prozessierten Streitwerte – sehr praxisrelevante Bestimmung von § 25 GOG hervor. In der Praxis geht diese Möglichkeit, zwingend einen Fall ab CHF 15’000 Streitwert vor dem Kollegialgericht beurteilen zu lassen gelegentlich vergessen.

Unmissverständlich sind die Aussagen des Arbeitsgerichts Zürich zur Schlichtungsverhandlung. Es ist nur eine Schlichtungsverhandlung notwendig, auch wenn Ansprüche aus dem Gleichstellungsgesetz (GlG) und aus dem Arbeitsrecht (Art. 319 ff. OR) zu beurteilen sind. Das ist auch die häufigste Konstellation. Selten hingegen sind Fälle, wo nur Fragen des Gleichstellungsgesetzes zur Diskussion stehen. Hier erklärt das Arbeitsgericht Zürich, dass Paritätische Schlichtungsbehörde für Streitigkeiten nach dem Gleichstellungsgesetz ohne Weiteres auch einen Schlichtungsversuch bezüglich anderer (arbeitsrechtlicher) Ansprüche unternehmen darf. Das ist auch eine zu begrüssende und wichtige Stärkung der Paritätischen Schlichtungsbehörde nach dem Gleichstellungsgesetz.

Autor: Boris Etter, lic.iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M., www.jobanwalt.ch

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