Urteil Bundesgericht 9C_737/2019 vom 22. Juni 2020: Keine geschlechtsbedingte Diskriminierung und Verletzung der EMRK bei Nichtanspruch auf Betriebszulagen bei Mutterschaft

Selbständig erwerbende Frauen haben gemäss dem Urteil des Bundesgerichts vom Urteil vom 22. Juni 2020 (9C_737/2019) bei Mutterschaft keinen Anspruch auf Betriebszulagen zusätzlich zur Mutterschaftsentschädigung. Dies entspricht gemäss dem Bundesgericht dem klaren Willen des Gesetzgebers. Eine geschlechtsbedingte Diskriminierung im Vergleich mit selbständig erwerbenden Männern und Frauen, die Dienst leisten, fällt mangels vergleichbarer Sachverhalte ausser Betracht. Die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall ist von Beruf übrigens Rechtsanwältin.

Eine selbständig erwerbende Frau, von Beruf Rechtsanwältin, hatte sich nach der Geburt ihres Kindes zum Bezug der Mutterschaftsentschädigung sowie von Betriebszulagen angemeldet. Während erstere gewährt wurde, verneinte die zuständige Ausgleichskasse einen Anspruch auf Betriebszulagen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde der Frau ab. Die Rechtsanwältin zog den Entscheid dann mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht weiter. Vertreten wurde sie dabei durch RAin Fanny De Weck von RISE Rechtsanwälte.

Das Bundesgericht weist ihre Beschwerde ebenfalls ab. Dem Wortlaut des Erwerbsersatzgesetzes (EOG) lässt sich kein Anspruch auf Betriebszulagen für selbständig erwerbende Frauen bei Mutterschaft entnehmen. Dies entspricht auch dem klar dokumentierten Willen des Gesetzgebers; davon abzuweichen, würde den Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung hinsichtlich des verfassungsmässigen Gebots der Gleichbehandlung von Mann und Frau (Artikel 8 Absatz 3 Bundesverfassung) sprengen.

Begründung der Vorinstanz (Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich)
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, die Vorinstanz, erwog, ein Anspruch auf Betriebszulagen zur Mutterschaftsentschädigung lasse sich weder dem Wortlaut von Art. 16e Abs. 2 EOG entnehmen, der die Bemessung der Mutterschaftsentschädigung regle, noch demjenigen von Art. 8 Abs. 1 EOG. Ein solcher Anspruch ergebe sich auch nicht aus der Gesetzessystematik. Aus den Materialien erhelle der (unbestrittene) legislatorische Wille, bewusst auf Betriebszulagen für Mütter zu verzichten, was mit den andernfalls anfallenden Mehrkosten begründet worden sei. Mithin liege ein qualifiziertes gesetzgeberisches Schweigen vor. Bei dieser Sachlage bestehe kein Platz für Analogie und richterliche Lückenfüllung. Angesichts Art. 190 BV sei eine Überprüfung des EOG auf seine Verfassungskonformität ausgeschlossen. Nicht ersichtlich sei, inwieweit eine Verletzung der EMRK vorliegen solle. Art. 14 EMRK enthalte kein allgemeines Gleichheitsgebot, sondern verbiete eine Diskriminierung nur hinsichtlich der in den übrigen substanziellen Vorschriften der Konvention und der Zusatzprotokolle enthaltenen Rechte und Freiheiten. Eine solche sei nicht ersichtlich, insbesondere nicht bezüglich des Rechts auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK). Schliesslich könne die Versicherte auch aus dem UNO-Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW, SR 0.108) für die vorliegende Streitsache nichts zu ihren Gunsten ableiten.

Argumente der Beschwerdeführerin vor dem Bundesgericht
Die Beschwerdeführerin, welche von RAin Fanny De Weck vor dem Bundesgericht vertreten wurde, brachte die folgenden Argumentationslinien vor: Sie machte geltend, die vorinstanzliche Rechtsauffassung verletze das in Art. 8 Abs. 2 und 3 Satz 3 BV verankerte Rechtsgleichheitsgebot, was das kantonale Gericht in Verletzung der Verfahrens- und Rechtsweggarantien nach Art. 29 und 29a BV nicht geprüft habe. Das EOG verfolge den einheitlichen Zweck des angemessenen Lohnersatzes bei Militärdienst und Mutterschaft, wobei bei beiden ein Anspruch auf eine Grundentschädigung von 80 % des Einkommens bestehe. Eine Betriebszulage werde hingegen aus rein finanziellen Gründen nur den Dienstleistenden gewährt, obwohl die Problematik der weiterlaufenden Betriebskosten auch für selbständig berufstätige Mütter bestehe. Darin sei eine Ungleichbehandlung mit direkter Auswirkung auf den Lohn bzw. Lohnersatz von Mann und Frau zu erblicken, die offensichtlich auf unsachlichen Gründen beruhe und unzulässig sei. Diese sei besonders stossend, da der Erwerbsersatz von Frauen und Männern gleichermassen finanziert und damit zwangsweise von arbeitstätigen Frauen (selbständigen und unselbständigen) finanziell mitgetragen werde. Die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie sich mit dieser Ungleichbehandlung nicht auseinandergesetzt und keine verfassungskonforme und zeitgemässe Auslegung vorgenommen habe, obwohl das EOG hierfür Raum lasse. Das Ziel eines Lohnersatzes in Höhe von 80 % für Wehrdienstleistende und Mütter während ihres Ausfalls im Beruf werde bei der Nichtgewährung einer Betriebszulage für selbständige Mütter vereitelt. Erst deren Ausrichtung führe dazu, dass auch Selbständige bei ihrer Abwesenheit in den Genuss eines effektiven Erwerbsersatzes kämen. Entsprechend werde kein neuer oder zusätzlicher sozialversicherungsrechtlicher Anspruch geltend gemacht, sondern lediglich ein diskriminierungsfreier Zugang zum bereits bestehenden Anspruch für Mütter. Es sei unverständlich, weshalb die Vorinstanz einzig mit historischer und systematischer Auslegung argumentiere, unter Ausblendung der teleologischen sowie objektiv-zeitgemässen, zumal bei mehreren möglichen Auslegungen die verfassungskonforme zu wählen sei und Art. 190 BV der verfassungskonformen Auslegung eines Bundesgesetzes nicht entgegen stehe. (E.2.2.1.).

Weiter machte die Beschwerdeführerin auch eine Verletzung der EMRK geltend: Entgegen der Vorinstanz liege auch eine Verletzung der EMRK vor. Das akzessorische Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK könne immer dann angerufen werden, wenn der umstrittene Sachverhalt in den Schutzbereich einer konventionsrechtlichen Garantie falle; deren Verletzung sei nicht erforderlich. Aus Art. 8 EMRK lasse sich zwar keine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Erbringung bestimmter Sozialversicherungsleistungen ableiten. Würden solche angeboten, seien sie aber diskriminierungsfrei und in mit Art. 8 EMRK konformer Weise auszugestalten. Art. 8 EMRK in Verbindung mit Art. 14 EMRK verbiete nach der Rechtsprechung des EGMR bei sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen auch indirekte Geschlechterdiskriminierungen, wie etwa aus dem Urteil des EGMR Di Trizio gegen die Schweiz vom 2. Februar 2016 [7186/09] hervorgehe. In casu liege eine Sozialversicherung vor, die mit dem exakt gleichen Ziel (80 % Lohnersatz bei Ausfall für Wehrdienst oder Mutterschaft) klar im Resultat Frauen benachteilige. Die Ungleichbehandlung aus finanziellen Gründen sei unter Art. 14 EMRK nicht zulässig und die Verletzung von Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK durch die staatlich vorgesehene (Ersatz-) Lohndiskriminierung vom Bundesgericht unter Art. 190 BV zu beheben, sofern eine völkerrechts- und verfassungskonforme Auslegung des EOG ausgeschlossen sei. Dies gelte umso mehr, als die strittige Ungleichbehandlung beim Lohnersatz auch mit Art. 11 i.V.m. Art. 13 CEDAW nicht vereinbar sei. Indem sie die geltend gemachte Diskriminierung gar nicht prüfte, habe die Vorinstanz zudem gegen die Art. 6 und 13 EMRK verstossen. (E.2.2.2.).

Ausführungen des Bundesgerichts zum EOG
Das Bundesgericht sieht im Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 EOG i.V.m. Art. 16e Abs. 2 EOG keinen Anspruch auf Betriebszulagen im vorliegenden Fall.

Das Bundesgericht argumentiert dabei, kurz und trocken, wie folgt: «Dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 EOG i.V.m. Art. 16e Abs. 2 EOG lässt sich kein Anspruch auf Betriebszulagen zur Mutterschaftsentschädigung entnehmen, wie sowohl das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat als auch die Beschwerdeführerin anerkennt. Unbestritten entsprach es dem Willen des Gesetzgebers, im Rahmen der Mutterschaftsentschädigung keinen solchen zu eröffnen (Erwägung 4.3 des angefochtenen Entscheids mit Verweis auf den ausdrücklichen Verzicht im Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 3. Oktober 2002 [BBl 2002 7522, 7547], was in den Räten diskussionslos übernommen wurde [AB 2001 N 1614 ff., 2002 N 1925 ff. und 2003 N 1337 ff. sowie AB 2003 S 529 ff. und 834 ff.]).» (E.3.1.).
Weiter sieht das Bundesgericht auch keine Möglichkeit von diesem (klar dokumentierten) gesetzgeberischen Willen abzuweichen: «Von diesem klar dokumentierten gesetzgeberischen Willen abzuweichen, würde den Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung, wie sie die Beschwerdeführerin verlangt (oben E. 2.2.1), sprengen (vgl. BGE 140 I 305 E. 6.2 S. 311 und E. 7.4 S. 314; BGE 141 II 338 E. 3.1 S. 340).» (E.3.2.).

Ausführungen des Bundesgerichts zur EMRK
Eine geschlechtsbedingte Diskriminierung im Vergleich mit selbständig erwerbenden Männern und Frauen, die Dienst leisten, fällt gemäss dem Bundesgericht weiter auch nicht in Betracht. Die Beschwerdeführerin beruft sich diesbezüglich auf den Schutzbereich der Artikel 8 und 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Im Vordergrund steht dabei gemäss Bundesgericht, ob und wieweit – als Teil der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 14 EMKR – überhaupt vergleichbare Verhältnisse vorliegen, die eine unterschiedliche Behandlung erfahren (E.4.1.).

Das Bundesgericht äussert sich zur EMRK wie folgt:
«Das EOG regelt zwar sowohl den Entschädigungsanspruch für Dienstleistende (Art. 1a ff. EOG) als auch denjenigen bei Mutterschaft (Art. 16b ff. EOG). Die Regelung im selben Gesetz führt für sich allein indes nicht zur Annahme vergleichbarer Sachverhalte und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jeweiligen Ansprüche an grundsätzlich verschiedenen versicherten Lebenssachverhalten anknüpfen (Dienst – primär Militärdienst – im Sinne des EOG einerseits und Mutterschaft anderseits), von denen nur die Mutterschaft dem Schutzbereich von Art. 8 EMRK unterfällt. Die fundamentale Verschiedenheit kommt bereits in den separaten Kompetenznormen der Bundesverfassung zum Ausdruck (Art. 59 Abs. 4 bzw. Art. 116 Abs. 3 BV), die dem Gesetzgeber überdies unterschiedliche Vorgaben machen. So wird dieser gemäss Verfassung nur bei Militär- und Ersatzdienst zum Erlass von Vorschriften über den „angemessenen Ersatz des Erwerbsausfalls“ („juste compensation pour la perte de revenu“ / „adeguata compensazione della perdita di guadagno“) angehalten, während er im Falle der Mutterschaft eine „Mutterschaftsversicherung“ („assurance-maternité“ / „assicurazione per la maternità“) einzurichten hat, deren genaue Ausgestaltung nicht näher präzisiert wird. Soweit in der Lehre die Vergleichbarkeit der beiden Sachverhalte ohne nähere Begründung bereits aufgrund der Regelung im selben Erlass vorausgesetzt wird, kann ihr nicht gefolgt werden (EDGAR IMHOF, Schweizerische Leistungen bei Mutterschaft und FZA/Europarecht, in: Das europäische Koordinationsrecht der sozialen Sicherheit und die Schweiz, 2006, Rz. 164; STÉPHANIE PERRENOUD, La protection de la maternité, 2015, S. 1173; ANNEKATRIN WORTHA, Schutz und Förderung der Familie, 2016, Rz. 619; bloss die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Gebot der Gleichbehandlung der Geschlechter aufwerfend SABINE STEIGER-SACKMANN, in: Recht der Sozialen Sicherheit, 2017, Rz. 32.65 i.f.; OLIVIER SUBILIA, La nouvelle loi sur les allocations pour perte de gain et maternité, AJP 2005 S. 1469 ff., S. 1474).» (E.4.2.1).

Es fährt fort: «Ein „einheitlicher Zweck“ der Erwerbsersatzregelungen bei Dienst und bei Mutterschaft lässt sich auch nicht den Materialien zur Parlamentarischen Initiative „Revision Erwerbsersatzgesetz. Ausweitung der Erwerbsersatzansprüche auf erwerbstätige Mütter“ entnehmen, die der Einführung der Mutterschaftsversicherung zugrunde lag. Aus ihnen erhellt vielmehr, dass die Regelung der Mutterschaftsentschädigung primär aus zwei Gründen im Rahmen des bestehenden EOG erfolgte: Einerseits mit Blick darauf, dass die EO zum Zeitpunkt der Einführung Überschüsse erwirtschaftete und sich die notwendige Zusatzfinanzierung deshalb in Grenzen (Lohnpromille statt Lohnprozente) hielt; anderseits aufgrund des Wunsches, die Versicherung effizient und mit geringem Administrationsaufwand über bereits bestehende Strukturen vornehmen zu können (vgl. etwa Votum des Initianten Triponez, AB 2001 N 1615).» (E.4.2.2.).

Es folgen wichtige Ausführungen des Bundesgerichts zur bezüglich der Anwendbarkeit des Kriteriums der geschlechterspezifischen Diskriminierung: «Ausschlaggebend ist letztlich die Anknüpfung der schweizerischen Mutterschaftsversicherung an die biologische Mutterschaft (Niederkunft mit anschliessender Erholungs- und Stillzeit), statt an die soziale Elternschaft und die damit verbundene Betreuungsaufgabe. Sie unterscheidet sich damit etwa von einer Elternzeit (zit. BGE 140 I 305 E. 8.1 S. 314 und E. 10 S. 317 ff. mit Hinweisen; vgl. auch STÉPHANIE PERRENOUD, Durées du travail et discrimination, AJP 2017 S. 657 ff., S. 661; zur unterschiedlichen Zielsetzung von Mutterschafts- und Elternurlaub weiter zit. Urteil des EGMR Markin gegen Russland Ziff. 132). Angesichts der Versicherung eines „Risikos“, das sich nur geschlechtsspezifisch bei Frauen verwirklichen kann, fällt eine Geschlechterdiskriminierung grundsätzlich ausser Betracht (vgl. implizit zit. Urteil des EGMR Markin gegen Russland, a.a.O.; ausserdem [allerdings bezugnehmend auf Art. 8 Abs. 3 BV] BGE 144 V 184 E. 5.2 S. 193). Dies bedeutet einerseits, dass Männer rechtlich durch eine solche Regelung keine Diskriminierung erfahren, obwohl sie vom Genuss der Versicherungsleistungen ausgeschlossen bleiben, da sich bei ihnen kein vergleichbarer Sachverhalt verwirklichen kann (vgl. zit. BGE 140 I 305 E. 10 S. 317 ff.; ausserdem STÉPHANIE PERRENOUD, Le congé de maternité, AJP 2014 S. 1652 ff., 1658 i.f. und Nachweise in Fn. 53). Anderseits bedeutet es aber auch, dass die begünstigten Frauen mit Blick auf eine allenfalls von anderen Sozialversicherungen abweichende Ausgestaltung der Entschädigung keine rechtliche Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts geltend machen können.» (E.4.3.).

Das Bundesgericht verneint anschliessend die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMKR wie folgt: «Sind keine vergleichbaren Sachverhalte gegeben, gelangt Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK von vornherein nicht zur Anwendung und kann – aus rechtlicher Sicht – in der geringeren Absicherung selbständig erwerbender Mütter für ihren Erwerbsausfall zufolge Mutterschaft im Vergleich zu den selbständig erwerbenden Dienst leistenden Männern und Frauen keine verpönte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts liegen. Gleichzeitig kann keine Rede davon sein, die Vorinstanz habe die prozessualen Rechte (Verfahrens- und Rechtsweggarantie, vgl. oben E. 2.2.2) der Beschwerdeführerin beschnitten, indem sie auf eine extensive grundrechtliche Überprüfung der Art. 16b ff. EOG verzichtet hat.
Angesichts des Ergebnisses besteht auch keine Veranlassung zur Überprüfung der getroffenen Regelung auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 8 Abs. 3 BV: Ein Anspruch auf Prüfung der Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen besteht nicht. Ob dazu Veranlassung besteht, hängt vielmehr von den Umständen des Einzelfalles ab (BGE 140 I 353 E. 4.1 S. 358 f.; SVR 2020 AHV Nr. 9 S. 25, Urteil 9C_659/2019 vom 15. November 2019 E. 4.2; vgl. ausserdem YVO HANGARTNER/MARTIN LOOSER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 11 zu Art. 190 BV und GIOVANNI BIAGGINI, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2017, N.13 zu Art. 190 BV). Auf das dahingehende Eventualbegehren der Beschwerdeführerin ist mit Verweis auf das Anwendungsgebot von Bundesgesetzen (Art. 190 BV) nicht weiter einzugehen.» (E.4.4.).

Bundesgericht zeigt auf Gesetzgeber
Eine zentrale Erwägung in diesem Leiturteil des Bundesgerichts ist auch die unmissverständliche Erklärung, dass die Regelung der kollektiven Absicherung Sache des Gesetzgebers sei.

Dazu äussert sich das Bundesgericht wie folgt: «Anzufügen bleibt, dass die Beschlussfassung über Regelungen kollektiver Absicherung, ebenso wie deren Ausgestaltung, Sache des Gesetzgebers ist (so bereits Urteil 2P.296/1992 vom 11. Februar 1994 E. 4b, publiziert in ZBl 1995 S. 375 ff., mit Verweis auf BGE 116 Ib 270 E. 7a S. 282 f.; ausserdem zit. BGE 144 V 184 E. 5.2 i.f. S. 194 f.). Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, sich zur politischen Opportunität einer unterschiedlichen Ausgestaltung der Ersatzordnungen zu äussern, und es existiert kein genereller Grundsatz, demzufolge der Staat seine Bürgerinnen und Bürger vor sämtlichen Unwägbarkeiten des Lebens gleichermassen abzusichern hätte (zit. BGE 144 V 184, a.a.O.).» (E.4.5.).

Das Bundesgericht dürfte durch diese klaren Worte auch die Absage an weitere Verfahren erteilt haben, welche versuchen auf dem Weg von Grundrechtsverletzungsbehauptungen vorgegebene und klare gesetzliche Ordnungen umzustossen.

Politische Schritte im Parlament
Hinzuweisen ist darauf, dass das Parlament 2019 Motionen mit dem Titel „Betriebszulage bei Mutterschaftsentschädigung von Selbständigerwerbenden“ angenommen hat. Der Bundesrat wird damit beauftragt, die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen zu schaffen. Das Bundesgericht machte im Urteil auch darauf aufmerksam (E.4.5. a.E.).

Kommentar zum Urteil
Im Urteil 9C_737/2019 vom 22. Juni 2020 des Bundesgerichts handelt es sich um ein wichtiges Leiturteil. Es beantwortet einerseits die Frage nach Betriebszulagen von selbstständig erwerbenden Frauen bei Mutterschaft. Andererseits ist ein Grundsatzurteil in mindestens zwei Bereichen. Es zeigt die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMKR auf. Und es zeigt auch deutlich die Grenzen der Gewaltenteilung auf. Gerade im Bereich des kollektiven Personenschutzes ist es Sache des Gesetzgebers die Gruppe der Anspruchsberechtigten zu bestimmen. Dem Rechtsweg sind hier klar die Limiten aufgezeigt worden.

Autor: Boris Etter, lic.iur. HSG, Rechtsanwalt, LL.M., LL.M., www.jobanwalt.ch

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